Hinsehen und nicht helfen
Verhaltenserklärung zwischen Moral, Angst und Mitgestalten?

Dall-E & Hannes Letsch, 2025
Cookies aussenstehende.pdf Zum Artikelanfang

Mobbing ist ein hohes Risiko. Denn wenn Aggression auf Gruppenebene zur Demonstration sozialer Macht eingesetzt wird, dann besteht die Gefahr der Ablehnung durch die anderen Gruppenmitglieder, die letztendlich bestimmen, wer wieviel Macht zugesprochen bekommt. Ist das Ziel „Coolness“ innerhalb einer Gruppe Gleichaltriger zu erlangen, braucht es daher erprobtes, strategisch-taktisches Geschick. Während circa 30% einer Klasse mit der Zeit mitmachen, gibt es eine Mehrheit von circa 60%, die eine klar ablehnende Haltung gegenüber Mobbing hat: Befragt man sechs bis sechszehn Jährige, dann sagt die Mehrheit, dass Mobbing bescheuert und unfair ist (Whitney & Smith, 1993). Sie vertreten die Ansicht, dass Mobbing in der eigenen Klasse entgegengetreten werden muss (Rigby & Slee, 1993; Charach et al., 1995; Gini, 2006; Gini et al., 2008). 50% bestätigen sogar, dass sie helfen würden, wenn sie beobachten, dass jemand schikaniert wird (Whitney & Smith, 1993). Und dennoch werden allein für Deutschland Schätzer in der Höhe von circa 500.000 Fällen pro Schuljahr angegeben (Schäfer, 1996). Wie passt das zusammen?

Die erwähnte Mehrheit gegen Mobbing (Antibullies) agiert nicht uniform: Während die eine Hälfte gegen die Aggressoren vorgeht, Hilfe holt oder versucht im Nachgang zu trösten, bleibt die andere Hälfte entgegen ihrer Haltung passiv. Das heißt, dass sich in einer Art Pattsituation im Verhältnis 1:1:1 aggressiv Agierende (Probullies), Verteidiger und Außenstehende gegenüberstehen (Salmivalli et al., 1996; Smith & Brain, 2000; Schäfer, 2003; Letsch, 2024). Wegen dieser Pattsituation bilden Außenstehende (ca. 30%) das Zünglein an der Waage im Entstehungsprozess eines Mobbingsystems. Denn nichts tun bedeutet nicht, wirklich nichts zu tun. Auf sozialer Ebene ist ein Danebenstehen, Beistehen oder sich Raushalten für alle Gruppenmitglieder „hörbar“ (vgl. Bandura, 1977), weil das, was passiert, nicht sichtbar für alle abgelehnt wird. In Messungen übersetzt: Obwohl in 88% aller Mobbingepisoden Zuschauer anwesend sind, das heißt, dass wahrscheinlich eine Mehrheit von Antibullies vor Ort ist, wird gleichzeitig in nur 19% der Fälle eingeschritten (Hawkins et al., 2001). Das bedeutet, dass Außenstehende indirekt unterstützen, was sie selbst ablehnen (vgl. Schäfer, 2003; Salmivalli, 2010; Schäfer & von Salisch, 2013).

Die Lösung lag in den Augen vieler internationaler Forschungsgruppen auf der Hand: Neben den Verteidigern sollten Außenstehende aktiviert werden, um die gesamten 60% auf Gruppenebene sichtbar werden zu lassen (vgl. z.B. Salmivalli, 2010). Die Beantwortung der Frage, wie die Aktivierung der passiven Außenstehenden wirksam funktioniert, wurde als Herausforderung gesetzt. Daraus entsprangen viele verschiedene Ideen (vgl. z.B. Schumacher, 2007; Evers et al., 2007; Merrell et al., 2008; McLaughlin, 2009), die alle gleichwertig gesehen wurden. Neben der Idee, das Einschreiten für das Opfer zu stärken (Stevens et al., 2000; Andreou et al., 2008; Frey et al., 2009), steht beispielsweise das Erhöhen der Empathie der Außenstehenden für das Opfer (Gini et al., 2007; Nickerson et al., 2008) oder das Fördern der Selbstwirksamkeit (Kärnä et al., 2011) gegen womöglich vorherrschende Unsicherheiten oder gar Ängste.

Doch weder die Empathie-Erhöhung (Hedges‘ g=.05)1Intervall-Interpretationen von Cohens d und Hedges‘ g: (-∞, 0.2) ist vernachlässigbar, [0.2, 0.5) ist ein kleiner, [0.5, 0.8) ein mittlerer und [0.8, ∞) ein großer Effekt (Hedges & Olkin, 1985; Cohen, 1988). noch eine Verhaltensveränderung (Hedges‘ g=.20) funktionierte (Polanin et al., 2012). Spätestens als unabhängig davon Kärnä und Kollegen in den Jahren 2011 und 2013 publizierten, dass in der Evaluation des breit angelegten finnischen Präventionsprogramms „Kiusaamista Vastaan“ (KiVa) die Aktivierung der Außenstehenden nicht gelang (Cohens d≤.08), war die Frage mehr denn je offen, was die Erklärung für die Inaktivität der Außenstehenden ist.

Alle Ansätze eint, dass sie die beobachtbare Passivität Außenstehender als Inaktivität verstehen. Alle Lösungsansätze versuchen Passivität durch für alle sichtbares Verteidigerverhalten zu ersetzen. Entweder fehle zur verteidigenden Bewegung der Außenstehenden eine passende und ausreichend starke Initialzündung zur Aktivierung (siehe z.B. Empathieförderung) oder aber die bereits existierende Aktivierungsenergie müsse in Bewegung umgesetzt werden (siehe z.B. Selbstwirksamkeitserhöhung).

Angesichts der bereits erwähnten Analysen verschiedener Evaluations- und Meta-Studien können drei Fragen abgeleitet werden, um eine Übersicht zum Thema zu geben:

Das Rätsel: Außenstehende Was alles erklärt Außenstehendenverhalten nicht?

Die Außenstehendenrolle ist wissenschaftlich kein unbeschriebenes Blatt. Die Forschung kann seit längerer Zeit zumindest ein schemenhaftes Bild eines Außenstehenden skizzieren:

  • Die meisten Schüler mit der Rolle „Außenstehender“ charakterisiert, dass sie „nichts tun“, wenn jemand schikaniert wird und ansonsten laut Aussagen ihrer Mitschüler in anderen Verhaltenstendenzen nicht sonderlich auffällig sind. Sie agieren wahrscheinlich unter dem Radar der Mitschüler. Oftmals wird in wissenschaftlichen Arbeiten das Bild einer lautlosen, in einer Klasse koexistierenden Gruppe skizziert (vgl. Gini et al., 2008; Pronk et al., 2013; Salmivalli, 2014; Letsch, 2024).
  • Außenstehende zeigen kein Dominanzstreben (vgl. z.B. Pronk et al., 2015; Letsch, 2024). Während Probullies bestimmen und zumindest Teile der Verteidiger mitgestalten wollen, eint alle Außenstehende, dass sie nicht dominanzorientiert sind.
  • Latané & Darley (1970) konnten in mehreren Experimenten zeigen, dass Außenstehendenverhalten durch ein starkes Orientieren an deren Peers beschrieben werden kann (Kontextsensibilität).

Zusätzlich werden sowohl die Konstrukte der pluralistischen Ignoranz2Die Gruppenmehrheit lehnt ein Verhalten respektive die dahinterstehende Norm insgeheim ab. Sie geht jedoch fälschlicherweise davon aus, dass die Mehrheit das Verhalten respektive die Norm akzeptiert. Das heißt, dass jeder glaubt, dass alle anderen an dasselbe glauben, obwohl tatsächlich kaum einer daran glaubt. (Katz & Allport, 1931) wie auch die Verantwortungsdiffusion3Eine (offensichtlich) notwendige Aufgabe oder Aktion wird nicht ausgeführt, obwohl dafür genügend fähige Personen zugegen sind. Die Beteiligten orientieren sich aneinander und gehen wechselseitig davon aus, dass eine andere Person rechtzeitig einschreiten wird. als Erklärungselemente in Latanés und Darleys „decision model of bystander“ verwendet. Entgegen der Verantwortungsdiffusion, die mit post-hoc Erklärungen4Eine Post-hoc-Erklärung bezieht sich auf eine Schlussfolgerung, die nach dem Eintreten eines Ereignisses gegeben wird, um es rückblickend zu erklären. Diese Art von Erklärung ist stark subjektiv gefärbt, weil sie davon ausgeht, dass ein Ereignis durch ein vorhergehendes Ereignis verursacht wurde, ohne Einsicht in fundierte Ursache-Wirkungs-Beziehung zu haben. durchzogen ist (vgl. Wallach et al., 1967) und einen gewissen bewussten, reflektorischen Moment voraussetzt, ist vor allem die pluralistische Ignoranz als Erklärer vielversprechend. Denn die Autoren berichten, dass Außenstehende sich nicht dazu entschieden hätten, nicht zu helfen (Darley & Latané, 1968; Latané & Darley, 1968). Stattdessen konnte man aus Forscherperspektive beobachten, dass diese Personen sich konstant unschlüssig darüber waren, wie sie den deutbaren, inneren Konflikt des Agierens oder Verharrens auflösen sollen. Emotionale Reaktionen, wie zitternde oder feucht-schwitzende Hände, werden als Zeichen dafür gesehen, dass Außenstehende (autofokussiert) mit sich selbst beschäftigt sind, einen inneren Konflikt lösen zu wollen.

Before an individual can decide to intervene in an emergency, he must, implicitly or explicitly, take several preliminary steps. If he is to intervene, he must first notice the event, he must then interpret it as an emergency, and he must decide that it is his personal responsibility to act. At each of these preliminary steps, the bystander to an emergency can remove himself from the decision process and thus fail to help. He can fail to notice the event, he can fail to interpret it as an emergency, or he can fail to assume the responsibility to take action.

Bevor eine Person entscheiden kann, in einem Notfall einzugreifen, muss sie - implizit oder explizit - mehrere vorbereitende Schritte unternehmen. Wenn sie eingreifen möchte, muss sie zunächst das Ereignis bemerken, es dann als Notfall interpretieren und schließlich entscheiden, dass es ihre persönliche Verantwortung ist, zu handeln. Bei jedem dieser Schritte kann der unbeteiligte Beobachter sich aus dem Entscheidungsprozess zurückziehen und somit versäumen zu helfen. Er kann das Ereignis übersehen, es nicht als Notfall wahrnehmen oder es versäumen, die Verantwortung zu übernehmen, zu handeln.

Latané & Darley, 1968, S.220

Das bedeutet, dass aufgrund ihrer Haltung Außenstehende klar zur Antibullygruppe gehören (Rigby & Slee, 1993; Whitney & Smith, 1993), allerdings ihr Verhalten dieser Tatsache entgegensteht. Den eigenen Überzeugungen zu folgen, stehen die gleichzeitigen Reaktionsbeobachtungen der anderen Peers gegenüber. In letzter Konsequenz bugsiert die hohe Kontextsensibilität Außenstehende in eine Situation, die „emotional-psychologisch“ aufgeladen ist. Was aber ist die Lösung für diese Beobachtung?

Ist Moral die Lösung?

Das angeführte Zitat aus Latanés und Darleys (1968) wissenschaftlichem Paper könnte nahelegen, dass dem Aktivierungsproblem mit moralischen Ansätzen beizukommen ist. Immerhin lehnen Außenstehende Mobbing ab (Rigby & Slee, 1993; Charach et al., 1995; Gini, 2006; Gini et al., 2008) und klassifizieren es als ein moralisches Problem (Malti & Krettenauer, 2012; Thornberg et al., 2016). Könnte daher der Widerspruch von Haltung und eigenem Verhalten durch ein moralisches Loslösen (Bandura, 1999; Bandura 2002) erklärbar sein? Kann also ein selektives Meiden moralischer Kritik und Selbstverurteilung Außenstehende charakterisieren?

Schließlich wäre denkbar, dass der innere Konflikt dadurch gelöst wird, dass das eigene Verhalten persönlichen Zwecken dienend neu definiert und die persönliche Verantwortung für das eigene Verhalten innerhalb der Gruppe verlagert wird. Das eigene Verhalten wird so interpretiert und verstanden, dass es in Einklang mit den eigenen Zielen oder Werten steht. Anstatt die Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen, wird diese auf die Gruppe oder auf äußere Umstände verschoben. Die Folgen des eigenen, tadelnswerten Verhaltens werden sogleich minimiert und die Eigenschaften des geschädigten Opfers werden als Provokation gebraucht, indem dessen Verhalten als Ursache für das eigene, gezeigte Verhalten gesetzt wird.

Das bedeutet, dass die sozio-kognitive Theorie dieser Erklärungsidee von Außenstehendenverhalten zugrunde liegt. Sie versteht kulturell und sozial vermittelte moralische Prinzipien als Verhaltensregulierer innerhalb einer Gruppe. So können etwa unmoralische Handlungen und Verhalten verhindert werden, weil durch unmittelbare Rückmeldungen das tatsächliche Verhalten Bewertung erfährt (Bandura, 1990; Bandura, 1999; Bandura, 2002). Das trifft insbesondere auf Jugendliche zu, weil sie direkte Rückmeldungen ihres Verhaltens innerhalb von Freundeskreisen wie auch qua Peerorientierung hochschätzen (vgl. Biddle et al., 1980). Kurzum: Wenn das moralische Loslösen Außenstehendenverhalten charakterisiert, dann wäre genau dort auf moralischer Ebene anzusetzen, um das Aktivierungsproblem zu lösen.

Das Problem: Weder konnten Korrelationen zwischen moralischem Loslösen, dem sogenannten „Moral Disengagement“ und Außenstehendenverhalten aufgefunden werden (Mazzone et al., 2016), noch waren grundsätzlichere Zusammenhänge zwischen moralischen Emotionen wie Schuld, Scham oder Angst und Außenstehendenverhalten messbar (Perren et al., 2012). Das bedeutet, dass die vorgestellte Wirkkette zur Erklärung von Außenstehendenverhalten nur theoretisch denkbar ist, nicht aber in der Realität wirkt. Und weil auch die Selbstwirksamkeit kein Erklärer für Außenstehendenverhalten ist (Kärnä et al., 2011) sowie kontextspezifische soziale Normen die Einsicht verkomplizieren (vgl. z.B. Doehne et al., 2018) stellten die beteiligten Forschungsgruppen indirekt die Frage, ob psychologische Konstrukte, die wie Moral stark auf reflektorische beziehungsweise bewusste Aspekte setzen, das Aktivierungsproblem überhaupt lösen können.

Wenn nicht Moral, dann doch Emotion?

Entgegen stark kognitiv orientierter Erklärungsversuche werden in der Forschung auch emotionale Aspekte analysiert, um eine Lösungsidee abzuleiten. Sie zeichnen sich durch (erlernte) Automatismen aus. Setzt man voraus, dass die rein kognitive Fähigkeit der Perspektivenübernahme stets Ausgangspunkt (vgl. z.B. Bischof-Köhler, 2009), das heißt notwendige Bedingung zum Verstehen einer Mobbingepisode ist, sticht ein prozessuales Folgeglied der Perspektivenübernahme als mögliche Lösung des Aktivierungsproblems hervor: Empathie (Manger et al., 2001; Nickerson et al., 2008).

Titchener führte 1909 beeinflusst von seinem zeitweisen Aufenthalt in Deutschland den Begriff „Empathie“ in die nordamerikanische Psychologie ein. Das Wort „Eingefühlung“ wurde zur Empathie, „Mitgefühlung“ wurde mit „Sympathie“ übersetzt (Wispe, 1987). Empathie ist ein Prozess, bei dem ein Beobachter an dem Gefühl oder der Intention einer anderen Person teilhat. Dadurch wird verstanden, was die beobachtete Person fühlt oder beabsichtigt (Eisenberg & Miller, 1987; Bischof-Köhler, 2009). Die empathische Reaktion kann durch das Ausdrucksverhalten der beobachteten Person verursacht werden oder auch durch die Situation, in der sie sich befindet (Eisenberg & Miller, 1987; Bischof-Köhler, 2009; Eisenberg et al., 2014). Dabei ist der beobachtenden Person bewusst, dass die Emotion, an der sie teilhat, in Wirklichkeit die subjektive Verfassung einer anderen Person kennzeichnet (Hoffman, 2000; Eisenberg et al., 2006; Bischof-Köhler, 2009).

Sympathie ist ebenfalls eine emotionale Reaktion (Eisenberg et al., 2006), die aus der Besorgnis oder dem Verständnis des emotionalen Zustands eines anderen resultiert (Eisenberg et al., 2006; Eisenberg et al., 2014). Allerdings entspricht der Zustand des Beobachtenden nicht dem Zustand des Beobachters (Eisenberg et al., 2014; Kienbaum et al., 2018). Daher ist Sympathie mit dem Gefühl der Sorge um den anderen durchzogen (Eisenberg et al., 2007). Das bedeutet auch, dass Sympathie psychologisch betrachtet die Folge von Empathie ist. Obwohl Sympathie oft auf Empathie basiert, kann sie womöglich direkt aus der kognitiv durchzogenen Perspektivenübernahme oder dem Zugriff auf situativ relevante Informationen im Gedächtnis entstehen (Eisenberg et al., 1991).

Obwohl diese klare Trennung der beiden Konstrukte seit längerem Bestand hat (vgl. z.B. Eisenberg & Miller, 1987), verschwimmt sie leider oftmals in der Literatur sehr stark (Björkqvist et al., 2000). Aus der resultierenden Beliebigkeit erwuchsen zusätzliche Definitionen der Empathie; das Gemeinsame sind die Reaktionen eines Individuums auf die Erfahrungen eines anderen (Davis, 1983).

Gesichert ist, dass Empathie aggressives Verhalten zumindest abmildern kann (Strayer & Eisenberg, 1987; Eisenberg & Strayer, 1987; Miller & Eisenberg, 1988; Eisenberg, 1989). Das Fördern von Empathie in Trainings erwies sich als effektiv, um aggressives Verhalten zu reduzieren (Kalliopuska & Tiitinen, 1991; Richardson et al., 1994). Aus der Perspektive des potenziell Geschädigten werden die negativen Folgen schädlichen Verhaltens antizipiert (Hoffmann, 2000). Asoziales Verhalten wird folglich reduziert (Jolliffe & Farrington, 2004) und die Reaktionsfähigkeit, prosoziales Verhalten zu zeigen, wird erhöht (Davis, 1994; Hoffmann, 2001). Der emotionale Stress, der die affektive Komponente von Empathie repräsentiert, sichert die Auseinandersetzung mit dem Zustand des Opfers ab (Batson et al., 1989; Eisenberg & Fabes, 1998), sodass eine wünschenswerte Stabilisierung der Opferfokussierung abgeleitet wird (Gini et al., 2008). In Summe, so die Lösungsidee, könnte demnach die Empathie(förderung) der Schlüssel zur Aktivierung der Außenstehenden sein.

Aber auch in diesem Fall erfährt das Vorgestellte erhebliche Einschränkungen in der Empirie: Zwar kann Empathie Aggressionsverhalten hemmen, allerdings ist der Umkehrschluss, dass die Erhöhung von Empathie Außenstehende zu Verteidigern werden lässt, bis dato empirisch nicht bestätigt. Im Gegenteil: Verteidiger und Außenstehende unterscheiden sich in ihren Empathiewerten nicht (Gini et al., 2008).

Der erfolglose Versuch, Außenstehende über das Feld der Empathie adressieren zu können, mündet in den Diskussionen vieler wissenschaftlicher Arbeiten in den bereits erwähnten Konzepten „Schuld“, „Scham“, „Angst“ oder „Schüchternheit“ (vgl. Gini et al., 2007; Gini et al., 2008; Nickerson et al., 2008; Hutchinson, 2012). Das heißt, dass in den Diskussionen abermals in einen anderen, möglichen Erklärungsbereich der Psychologie abgebogen wurde: Womöglich fungiert Empathie „nur“ als sprichwörtlicher Türöffner für Konstrukte, die in der Persönlichkeit verhaftet sind. Das heißt, dass Persönlichkeitsmerkmale Außenstehendenverhalten nach sich ziehen beziehungsweise Menschen in diese Rolle treiben würden. Als Hemmer für verteidigendes Verhalten wäre daher der Abbau psychologischer Hemmer, anstatt der Aufbau beziehungsweise das Fördern von gewünschtem Verhalten zu denken. Hierfür werden zwei Konstrukte öfters diskutiert: Bewertungsschüchternheit und Bestrafungssensitivität.

Bewertungsschüchternheit und Angst

Sichtet man bestehende Studienergebnisse, die sich dezidiert mit Außenstehenden auseinandersetzen, so können entweder unterschwellig mitschwingend oder explizit genannt viele Argumentationen auf die Arbeit von R. J. Hazler (1996a) zurückgeführt werden (vgl. z.B. O’Connell et al. 1999; Hawkins et al. 2001; Gini et al., 2008; Salmivalli, 2014; Shultz et al., 2014).

It is hard on a person's self-respect and self-confidence to see someone get hurt and know that he or she has done nothing to stop it. Bystanders generally remain on the sidelines because they don't know what it is they should do. They are fearful of becoming the brunt of the bullies' attacks or that they might do the wrong thing that causes even more problems. Entering the middle of a conflict situation where who is right, who is wrong, and whether you can gain the upper hand will raise any normal person's level of fear. The emotionally safest route generally looks like the avoidance of getting involved and it is by far the most common route taken.

Es ist schwer für das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen einer Person, jemanden verletzt zu sehen und zu wissen, dass man nichts getan hat, um das zu verhindern. Beobachter bleiben in der Regel am Rand, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen. Sie fürchten, selbst Ziel von Angriffen der Täter zu werden oder etwas Falsches zu tun, das noch größere Probleme verursacht. Sich inmitten einer Konfliktsituation einzumischen, in der es darum geht, wer recht hat, wer Unrecht hat und ob man die Oberhand gewinnen kann, wird das Angstniveau eines normalen Menschen steigern. Der emotional sicherste Weg erscheint in der Regel darin, sich nicht einzumischen, und dieser Weg ist bei weitem der häufigste.

Hazler, 1996a, S.11–12

Obwohl intuitiv überzeugend, reichen derartige Versuche (Hazler, 1996a; 1996b) zur Erklärung des Aktivierungsproblems nicht aus. Da eine direkte, empirisch belastbare, quantitative Replikation des von Hazler Theoretisierten fehlt, schleichen sich erste Zweifel ein, ob Schüchtern- oder Befangenheit, Angst oder sozialer Druck systematisch mit Außenstehendenverhalten verbunden werden kann.

Vor allem der soziale Druck kann bereits zum jetzigen Zeitpunkt vernachlässigt werden, weil zum einen die Peerorientierung das weitreichendere und viel stärker an der sozialen Realität liegende Konstrukt ist. Und zum anderen geht im Begriff der Bewertungsschüchternheit die Idee des sozialen Drucks auf: Empirisch wird hierbei postuliert, dass der Mangel an Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die subjektiv wahrgenommene Unfähigkeit, sich in sozialen Kontexten adäquat zu verhalten, eine Besorgnis erzeugt, negativ von anderen (Peers) bewertet zu werden (Karakashian et al., 2006). Unterstützung für diese Hypothese findet sich, weil schüchterne Menschen signifikant mehr Zeit damit verbringen, sich mit sich selbst, das heißt selbstfokussiert zu beschäftigen (Melchior & Cheek, 1990). Daraus entsteht wiederum das Problem, dass qua Selbstfokussierung die Aufmerksamkeit schwerer von sich selbst auf andere gelenkt werden kann (Eisenberg et al., 1995), was dazu führt, dass solche Personen die Fähigkeit, souverän sozial zu agieren, verlieren und das Miteinander nicht (mehr) genießen können (Hartmann, 1983).

Karakashian und Kollegen (2006) folgten dieser Idee empirisch und berichten, dass auch in dieser theoretisierten Wirkkette wenig Halt zu finden ist, denn …

  1. … Verteidiger und Außenstehende unterscheiden sich nicht in ihrem Ausmaß an Bewertungsschüchternheit.
  2. … Außenstehende charakterisiert stattdessen eine starke Kontextsensibilität. Das heißt dass die Ergebnisse von Latané und Darley (1968) repliziert wurden. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass das Entscheidungsmodell von Latané und Darley (1970) vielversprechender für die Erklärung von Außenstehendenverhalten ist.
  3. … Helfen in Mobbingverhalten wird weniger als strategisch überlegtes Handeln, sondern eher als impulsives, automatisiertes Verhalten beschrieben.

Selbst das stärkste psychologische Konstrukt namens Angst beziehungsweise Furcht funktioniert nicht als Erklärer. Zwar kann auf Basis eines positiven Zusammenhangs zwischen Außenstehendenverhalten und Bestrafungsempfindlichkeit sowie eines negativen zur Belohnungssensibilität eine Tendenz in Richtung Furcht interpretiert werden. Es bleibt aber bei einer Tendenz, denn zum einen konstatieren Camodeca und Gossens (2005), dass Verteidiger wie Außenstehende vergleichbar in der Lage sind, nicht selbst zur Zielscheibe für Schikanen der Probullies zu werden. Sie unterstreichen explizit die Fähigkeiten Außenstehender, um sich kognitiv wie emotional mit den Gegebenheiten der Klasse zu arrangieren. Und zum anderen liefern Big-Five-Analysen von Pronk und Kollegen (2015), dass maximal im Bereich der Extraversion als auch Dominanzstreben negative Korrelationen zu Außenstehendenverhalten auffindbar sind. Sowohl emotionale Stabilität wie auch Impulskontrolle sind mit Außenstehendenverhalten positiv korreliert (Pronk et al., 2015). Aufgrund dieser Befunde ließe sich kombinieren, dass Außenstehende dazu tendieren, sich nicht im Sinne ihrer Antibullyhaltung zu „outen“ (Pronk et al., 2015).

Anstatt einer Erklärung des Aktivierungsproblems der Außenstehenden näherzukommen, schließt sich der Kreis zur Moral, weil die Autoren in Kombination mit den Befunden von Olthof (2012) hinsichtlich der Extraversion der Außenstehenden ableiten, dass für verteidigendes Verhalten eher moralische Aspekte (das moralische Bewusstsein) als Persönlichkeitsfaktoren bestimmen, ob ein Jugendlicher pro Opfer interveniert oder nicht (Pronk et al., 2015). Schließlich zeigten sowohl Olthof (2012) wie auch Menesini und Camodeca (2008) im Vorfeld der Studie von Pronk und Kollegen (2015), dass prosoziales dem aggressiv-erzwingenden Verhalten wegen moralischen Affekten vorgezogen wird.

Komplexität: Außenstehende Was erklärt Außenstehendenverhalten schlüssig?

Die in sich zirkulierenden Ergebnisse sind frustrierend, weil sie keine der vorgestellten Erklärungsmuster bestätigen: Weder haben Außenstehende Angst, selbst zum Opfer zu werden, noch ist ihnen egal, ob jemand schikaniert wird. Eine Furcht, etwas falsch zu machen, kann auch nicht nachgewiesen werden. Wie also kann das Aktivierungsproblem der Außenstehenden aufgelöst werden, wenn sich weder moralische, emotionale noch die Persönlichkeit betreffende Aspekte direkt anbieten?

Obwohl keine der vorgestellten Studien den Hauptfaktor für Außenstehendenverhalten empirisch bestimmen konnte, kann aus den Ergebnissen Wertvolles herausgezogen werden: Außenstehende sind empathisch (Gini et al., 2008), nicht dominanzorientiert (vgl. z.B. Pronk et al., 2015; Letsch, 2024), kontextsensibel (Latané & Darley, 1968; Darley & Latané, 1968) und können sich angesichts der vorherrschenden Rahmenbedingungen in einer Schule (Smith, 1994; DeRosier et al., 1994; Schäfer, 2003) schwerlich (psychologisch) dem Geschehen in ihrer eigenen Klasse entziehen. Das heißt, dass vornehmlich orientierend reagierende Außenstehende während einer Mobbingepisode emotional mit den Geschehnissen konfrontiert werden – egal ob sie es wollen oder nicht. Die Beschreibungen von Darley & Latané (1968) bekräftigen ein hohes Maß an Emotionalität mit sichtbaren Stressmarkern (z.B. feucht-schwitzende Hände) in Notsituationen. Das heißt, dass eine Selbstfokussierung beschrieben wird. In gleicher Weise argumentieren Eisenberg und Kollegen (1995), die Inaktivität messbar mit hoher physiologischer Reaktivität, negativ gefärbter, emotionaler Intensität, einem dispositionellen negativen Affekt5Ein Affekt ist ein intensives, oft kurzfristiges emotionales Erleben oder Gefühl. Sie sind in der Regel die Reaktion auf bestimmte Reize oder Situationen, die die Wahrnehmung und das Verhalten eines Menschen stark beeinflussen. und Personal Distress verbinden können.

Personal Distress und Distanzierung

Helfen in Mobbingepisoden ist nicht risikoarm. Aus Sicht der Helferforschung wird es als spontanes, kostspieliges Verhalten beschrieben. Es ist deshalb kostspielig, weil ein Einschreiten in physischen und verbalen Auseinandersetzungen die ein oder andere Blessur oder Kränkung nach sich ziehen kann. Anstatt aber sogleich Angst oder Persönlichkeitsmerkmale für ein ausbleibendes Helfen zu vermuten, kann stärker situativ und verhaltensbasiert argumentiert werden, ohne die Ergebnisse der erwähnten Studien in Frage zu stellen.

Wenn das Intervenieren pro Opfer in einer Mobbingepisode als risikoreich gesetzt wird, so wird eine direkte Verbindung zu den bereits vorgestellten Konstrukten „sympathy“ (Sympathie) und „empathy“ (Empathie) wichtig. Spontanes, kostspieliges Helfen steht in einem klaren Zusammenhang zum Konstrukt der Sympathie und nicht zur Empathie (vgl. z.B. Eisenberg-Berg & Hand, 1979; Bischof-Köhler, 2009; Eisenberg et al., 2014). Die Empirie beweist den Zusammenhang zwischen Sympathie und verteidigendem Verhalten grundsätzlich kulturunabhängig (Eisenberg et al., 2001; Carlo et al., 2003; Trommsdorff et al., 2007; Gini et al., 2008; Malti et al., 2009; Carlo et al., 2010; Carlo et al., 2011). Einige Forschergruppen konstatieren sogar, dass Sympathie für die Entwicklung und Aktivierung von hoch entwickeltem moralischem Denken notwendig sei (z.B. Eisenberg, 1986; Hoffman, 2000; Eisenberg et al., 2001).

Eine Lösung des Aktivierungsproblems ist auf den ersten Blick in greifbarer Nähe, denn Empathie kann, ebenso wie Sympathie, die Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse anderer lenken und Gefühle der Besorgnis für andere in Schmerz, Not oder Leid hervorrufen (Eisenberg et al., 2014). Darüber hinaus können Empathie und Sympathie die Art und Weise, wie man über die Bedürfnisse anderer und die Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf andere denkt, umstrukturieren (Hoffmann, 2000). Die Konstrukte „Perspektivenübernahme“, „Empathie“ und „Sympathie“ stellen sich jedoch als Automatismen heraus und bedienen sich neben der Perspektivenübernahme kaum kognitiver und rationaler Mechanismen. Sie wirken sogar grundlegend in der moralischen Entwicklung eines Individuums und damit prozesshaft in jeder relevanten Situation (Eisenberg et al., 2014).

Allerdings: Wenn Merkmale des Außenstehendenverhaltens auf eine empathische statt auf eine sympathische Reaktion hindeuten (vgl. Darley & Latané, 1968; Eisenberg et al., 1995), dann kann sich Personal Distress entwickeln (Eisenberg et al., 2014). Es handelt sich hierbei um eine selbstgerichtete (autofokussierte) unangenehme (aversive) emotionale (affektive) Reaktion auf die Wahrnehmung der Emotionen einer beobachteten Person. Unbehagen und Mitleid ist diesem Konstrukt einbeschrieben (Batson, 1991). Personal Distress ist eine empathische Übererregung (Hoffman, 2000), die durch Stressmarker wie erhöhter Herzschlag, spezifische Gesichtsausdrücke und vermehrtes Schwitzen charakterisiert ist (Eisenberg & Fabes, 1990; Eisenberg et al., 1989; Eisenberg et al., 2006; Fabes et al., 1993; Zahn-Waxler et al., 1995).

Unter Personal Distress stehende Personen ringen damit, die eigenen aversiven Emotionen zu deckeln. Das heißt, dass sie womöglich noch in Richtung einer Mobbingepisode starren, psychologisch allerdings mit voller Aufmerksamkeit bei sich selbst sind, um möglichst schnell die eigenen negativen Emotionen zu kontrollieren beziehungsweise abzumildern. Das bedeutet, dass trotz vieler Ähnlichkeiten zum Konstrukt der Sympathie Empathie in der Verhaltensbeobachtung gegenteilig ausfällt: Statt zu helfen, wird Untätigkeit sichtbar. Anstatt einzugreifen, ist ein untätiges Gewährenlassen zu beobachten.

Reaktionsschemata verschiedener Mobbingrollen
Abbildung 1: Kategoriale Gruppierung verschiedener Mobbingrollen anhand ihres Reaktionsmusters auf vier Mobbingszenen im Film „BenX“ nach Letsch (2024)

Zweidrittel der Außenstehenden, das heißt diejenigen Schüler, die situativ in Mobbingepisoden eingebunden sind, danebenstehen, zuschauen aber nichts tun, zeigen systematisch Stressprofile, die auf Personal Distress hinweisen (Letsch, 2024). Aus präventiver, wie interventiver Perspektive ist Personal Distress ein Problem, denn es handelt sich um automatisiertes Verhalten, das über längeren Zeitraum sozialisiert wurde und nicht einfach aufgelöst werden kann.

Despite some genetic transmission of empathy, it is likely that environmental factors, including interactions with caregivers, can either promote or inhibit the development of sympathy and personal distress. Parents’ socialization practices often may partly reflect parents’ genetic makeup, which is passed on to offspring and may affect children’s capacity for empathy, but some empathy-related behavior is likely learned.

Trotz einer gewissen genetischen Vererbung von Empathie ist es wahrscheinlich, dass Umweltfaktoren, einschließlich der Interaktionen mit Bezugspersonen, die Entwicklung von Sympathie und Personal Distress entweder fördern oder hemmen können. Die Sozialisation durch die Eltern spiegelt oft zum Teil die genetische Veranlagung der Eltern wider, die an die Nachkommen weitergegeben wird und die Fähigkeit der Kinder zur Empathie beeinflussen kann. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass ein Teil empathiebezogenen Verhaltens erlernt wird.

Eisenberg et al., 2014, S.194

Grundsätzlich gilt zwar, dass alles, was erlernt wurde, auch wieder abtrainiert werden kann. Allerdings beschreiben die Ergebnisse der Helferforschung langwierige Lernprozesse, die durch das Elternhaus, Erzieher und Lehrer sowie Peers (Waters et al., 1986; Trommsdorff, 1991; Staub, 1992; Robinson et al., 1994; Laible et al., 2000; Zhou et al., 2002; Donohue et al., 2003) beeinflusst oder mitgestaltet werden. Obwohl Schule in der Adoleszenz zentraler Begegnungs- und Lernraum ist, kann Schule als System nicht derart persistent und konsistent agieren, um über Jahre gelerntes, automatisiertes und empathisches Außenstehendenverhalten in sympathisches Verteidigerverhalten zu transformieren.

Dass Personal Distress ursächlich für das Verhalten von Außenstehenden ist, lässt sich auch daran erkennen, dass sich bei genauerer Betrachtung der Gruppe situativer Außenstehender Verbindungen zu den zuvor vorgestellten Lösungsideen finden lassen: Moral Disengagement (moralisches Loslösen) spielt beispielsweise genau dann eine Rolle, wenn Personal Distress vorgeschaltet ist (Letsch, 2024). Es kann empirisch bewiesen werden, dass hohe Moral Disengagement Werte innerhalb der Außenstehendenrolle systematisch und bedingt auffindbar sind (Letsch, 2024). Die Idee zum Verständnis der Außenstehenden von Mazzone und Kollegen (2016) wird daher erweitert beziehungsweise präzisiert: Das Umetikettieren des eigenen, aber gleichzeitig abzulehnenden Verhalten funktioniert für gestresste Außenstehende als eine gelernte/imitierte Taktik (Bandura, 1977), um im Nachgang einer Mobbingepisode automatisiert Gewissensbisse respektive die aversiven Emotionen zu deckeln und in einem möglichst beherrschbaren Rahmen zu halten. Damit sind aber etwa moralische Aspekte symptomatisch, nicht aber ursächlich für Außenstehendenverhalten.

Spektrum verschiedener Außenstehender Spektrum verschiedener Außenstehender
Abbildung 2: Verschiedene Außenstehendengruppen und deren Vernetzung in der Klasse nach Letsch (2024)

Das restliche Drittel an Außenstehenden, das keine erhöhten Stressmarker aufweist, ist in der Gesamtschau durch eine gewisse Distanzierung von den Geschehnissen in der eigenen Klasse charakterisierbar: Auf den ersten Blick vielversprechend erscheint die Feststellung, dass diese Gruppe sogenannter genereller Außenstehender laut Auskunft ihrer Mitschüler sporadisches Verteidigerverhalten zeigt (Letsch, 2024). Ihr moralischer Kompass ist wenig überraschend zu dem der Verteidiger vergleichbar. Allerdings besitzen sie einen niedrigen sozialen Status und auch ansonsten sind sie in keiner der notwendigen Hemisphären für effektives Helfen den Verteidigern ebenbürtig (Letsch, 2024). Auch eine gewünschte soziale Nähe zu den Verteidigern existiert laut der Meinung der Verteidiger wie dem Rest der Klasse nicht.

Bei genauerer Betrachtung wird zusätzlich erkennbar, dass das sporadische Verteidigerverhalten vornehmlich von den anderen Außenstehenden attestiert wird, nicht aber breitgestreut von der gesamten Klasse. Das heißt, dass sie nicht für alle (demonstrativ) sichtbar gegen Mobbingepisoden vorgehen, sondern maximal im Stillen, wahrscheinlich sogar eher selektiv helfen. Wenn zusätzlich hinzugezogen wird, dass das sporadische Helferverhalten generell Außenstehender bedeutet, im Nachgang zu trösten, aber eben nicht gleichwertig oft Hilfe geholt oder selbst interveniert wird, dann unterstreicht dies den großen Unterschied zwischen dem Agieren der Verteidiger und generell Außenstehender. Ein weiterer, direkter Hinweis, dass es sich hierbei um eine exklusive, abgeschlossene Gruppe handelt, ist die Beobachtung, dass generell Außenstehende vorwiegend Freundschaften unter ihresgleichen pflegen. In Summe kann aus dem Befundmuster eine psychologische Distanzierung herausgelesen werden. Das bedeutet, dass generell Außenstehende sich untereinander als Gruppe innerhalb der größeren Gruppe „Klasse“ organisieren (Letsch, 2024).

Implikationen zum Verständnis Must-Haves und No-Gos ableiten

Die Idee, dass Empathie wesentlich ist, um Außenstehende zu aktivieren, funktioniert nicht. Die dahinterstehende Annahme, dass es notwendig sein könnte, Außenstehende in der Perspektivenübernahme zu schulen, ist ebenfalls unzutreffend, weil alle Schüler einer Klasse gleich gut darin sind, in der Mimik und Gestik ihrer Mitschüler ablesen zu können, wie es der betreffenden Person geht (Letsch, 2024). Derartige Maßnahmen könnten sogar das Verhaltensmuster gestresster Außenstehender zusätzlich verfestigen: In Mobbingepisoden empathisch Reagierende (Mitleidende) anzuleiten, sich noch stärker mit dem Leid des Opfers auseinanderzusetzen, könnte dazu führen, dass sich diese Schüler mehr und mehr in ein zu starkes Mitfühlen hineinsteigern, was in letzter Konsequenz Personal Distress provoziert und verfestigt.

Angstbewältigungsmaßnahmen oder das Fördern der Selbstwirksamkeit (Kärnä et al., 2011), die aus der Beobachtung der Passivität Außenstehender abgeleitet werden könnten, sind ebenfalls nicht passend, weil Personal Distress nicht die Angst vor etwas beschreibt. Es handelt sich konträr dazu um eine emotionale Überreizung, weil die betreffende Person hinschaut und sich mit der Situation auseinandersetzt. Die empathische Reaktion setzt den jeweiligen Außenstehenden durch den autofokussierenden Charakter „außer Gefecht“. Sie fühlen sich nicht selbst bedroht (Hoffman, 2000; Eisenberg et al., 2006; Bischof-Köhler, 2009), sondern leiden mit und sind damit beschäftigt, die eigene emotionale Überreizung zu deckeln. Womöglich erscheint es von außen so, dass der betreffende Schüler immer noch Teil der Mobbingepisode ist und diese beobachtend verfolgt, psychologisch liegt aber die Aufmerksamkeit längst beim Schüler selbst, der versucht, sich emotional zu regulieren, was unter Personal Distress Stehenden wenig effektiv gelingt (vgl. z.B. Eisenberg et al., 2014).

In diesem Artikel nur angedeutet (vgl. Abbildung 2) und im Detail bei Letsch (2024) nachlesbar, sind Außenstehende keine Einheit. Sie können sich quer zur Machtstruktur in ihrer Klasse bewegen. Zwar bilden der Dominanzanspruch der aggressiv Agierenden und das Verhaltensprofil der Verteidiger die harten Grenzen. Der dazwischen liegende, soziale Raum ermöglicht allerdings verschiedene Positionierungsmöglichkeiten im Klassengefüge. Das heißt, es gibt Optionen, wie man sich in der eigenen Schulklasse als Außenstehender (sozial) bewegt.

Ein Drittel der Außenstehenden arrangiert sich etwa mit den Gegebenheiten in der Klasse, in dem sie sich untereinander organisieren und sich (weitgehend) vom Klassengefüge abkapseln. In jedem Fall wird es nicht gelingen, Außenstehende von außen nachhaltig (moralisch) ansprechen zu können (Letsch, 2024). Die Tatsache, dass alle Außenstehenden keine Außenseiter sind, weil sie alle ein Freundschaftsnetzwerk innerhalb der Klasse besitzen, impliziert, dass Appelle, das „eigene Gesicht verlieren zu können“, wenig erfolgsversprechend sind. Niemand der Außenstehenden muss in irgendeiner Art und Weise befürchten, von den Peers tatsächlich ausgeschlossen zu werden. Manche Außenstehende erhalten – weil mit diesen sozial verbandelt –Zuspruch und Anerkennung von den Probullies. Die anderen sind derart untereinander vernetzt, dass eine Koexistenz zu den Kerngruppen innerhalb der eigenen Klasse problemlos möglich ist.

Trotzdem verbleibt, dass alle Außenstehende eint, dass sie Mobbing ablehnen. Unter Personal Distress stehende Personen helfen nicht in Eigeninitiative, sehr wohl aber auf Aufforderung (Eisenberg et al., 2014). Und weil zusätzlich eine enge Vernetzung innerhalb der Außenstehenden besteht, könnte die Kontextsensibilität (Peerorientierung) präventiv genutzt werden, um eine Antibullyhaltung zu fördern, indem Außenstehende durch Verteidiger vermittelt in deren Handlungen einbezogen werden (Letsch, 2024). Das soll nicht heißen, dass Außenstehende durch Verteidiger effektives, eigenständiges Helfen per Anweisung lernen sollen, um doch zu einem Verteidiger zu mutieren. Es erfordert vielmehr eine für alle Klassenmitglieder sichtbare Inklusion durch Assistenz, indem beispielsweise zusätzliche Hilfe durch das Halten der Tasche oder Jacke des handelnden Verteidigers geleistet oder aber der Lehrer zur Hilfe geholt wird. Dadurch würde für alle, auch für die Probullies in der Klasse sichtbar werden, dass ihr Handeln keine Mehrheit hat, sondern abgelehnt wird, sodass in letzter Konsequenz das Streben nach Dominanz qua Aggression (Mobbing) unterminiert wird.

Die Art und Weise, wie die Außenstehendenrolle empirisch charakterisiert werden kann, bedeutet ein abermaliges Ausrufezeichen dafür, dass präventive wie interventive Praxis die Moderation, nicht aber die Beratung oder frontale Anleitung sein darf. Weil eine Verbesserung durch individuumszentrierte Lösungsideen nicht gelingt, spricht sehr vieles dafür, dass die Gruppe, die Klasse selbst aktiv werden muss. Dazu braucht sie Begleitung, die niemals belehrend ist, aber Anregungen gibt, um es der Klasse zu ermöglichen, Ressourcen als schon vorhandenes Potenzial zu erkennen und als gemeinsames Wissen zu nutzen (Letsch, 2024).

Literaturverzeichnis

Webseiten

Diese Seite verwendet Cookies zur Darstellung und für Funktionen aller angebotenen Inhalte. Bevor es weitergeht, stelle bitte alles nach deinen Wünschen ein. Ausführliche Informationen und Hinweise sind unter Datenschutz beziehungsweise im Impressum nachlesbar.

Datenschutzeinstellungen

Einige Cookies sind essenziell und können nicht deaktiviert werden. Ohne diese würde die Webseite zu keinem Zeitpunkt funktionieren. Andere hingegen helfen zwar zur Optimierung, können allerdings nachstehend per Klick aktiviert oder deaktiviert werden.

Notwendig

Notwendige Cookies können nicht konfiguriert werden. Sie sind notwendig, damit diese Webseite überhaupt angezeigt werden kann.

Schriftgrößen

Konfiguriere, ob die Option zur Änderung der Schriftgröße auf Artikelseiten gegeben sein soll oder nicht.

Lesezeichen

Konfiguriere, ob die Option zum Speichern eines Lesemarkers auf Artikelseiten gegeben sein soll oder nicht.

Details

Cookies sind kleine Textdateien, die von Webseiten verwendet werden, um die Benutzererfahrung effizienter zu gestalten. Laut Gesetz können Cookies auf deinem Gerät gespeichert werden, wenn diese für den Betrieb dieser Seite unbedingt notwendig sind. Für alle anderen Cookie-Typen kann deine Erlaubnis gegeben oder entzogen werden.

Notwendige Cookies

Name Anbieter Zweck Ablauf Typ
PHPSESSID Mobbing-Forschung Dieses Cookie ermöglicht es, die Onlineaktivitäten einer einzelnen Browser-Sitzung bzw. einen Nutzer eindeutig zuordnen. Sitzungsende HTTP
cookieApprovement Mobbing-Forschung Speichert, ob der Nutzer den Konfigurationsprozess der Cookies bereits abgeschlossen hat oder nicht. 30 Tage HTML
cookieColorMode Mobbing-Forschung Hiermit wird gesteuert, in welcher Farbpalette die Inhalte der Webseite angezeigt werden. Ohne dieses Cookie würde nichts sichtbar sein. 30 Tage HTML
cookieFontSizeApprovement Mobbing-Forschung Speichert, ob der Nutzer generell die Schriftgrößenfunktion nutzen möchte oder nicht. 30 Tage HTML
cookieBookmarksApprovement Mobbing-Forschung Speichert, ob der Nutzer generell Lesezeichen nutzen möchte oder nicht. 30 Tage HTML
cookieQuibble Mobbing-Forschung Steuert, ob die zum Artikel passenden FAQ automatisch angezeigt werden soll oder nicht. 30 Tage HTML

Artikelfunktionen

Name Anbieter Zweck Ablauf Typ
cookieFontSize Mobbing-Forschung Hiermit wird gesteuert, in welcher Schriftgröße die Inhalte der Webseite angezeigt werden. Dieses Cookie wird erstellt, sobald eine Änderung der Standardschriftgröße vom Besucher der Webseite initiiert wird. 30 Tage HTML
cookieBookmarks Mobbing-Forschung Speichert diejenigen Artikel und die jeweilige Leseposition, die ein temporäres Lesezeichen beinhalten. 30 Tage HTML

Ausführliche Informationen und Hinweise zum Datenschutz, Impressum