Die Basis des Mobbings
Wenn Schaden nebensächlich ist

Dall-E & Hannes Letsch, 2024
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Wer mobbt, muss ein böser Typ sein. Denn wenn jemand ein schwächeres Gruppenmitglied über lange Zeit hinweg rücksichtslos schikaniert, dann wird das Bild eines unbarmherzigen Teufels in Person gezeichnet. Es muss sich um ein herzloses Wesen handeln, das näher einem Ungeheuer als einem Menschen ist. Wie sonst wäre erklärbar, dass man seinesgleichen so etwas absichtlich antun könnte?

Die formulierte Überspitzung ist nah an dem, was in Artikeln und Podcast Beiträgen beständig nachzulesen und zu hören ist. Ungläubig, schockiert oder staunend wird versucht, eine meist aus dem eigenen Erfahrungsschatz geschöpfte Argumentationskette zu kreieren, die die Motive und Absichten Mobbender versucht umfänglich zu erklären. Öfters denn nicht sind die Gesprächspartner sich einig, dass Defizite in solchen Personen schlummern müssen, die sie zu sprichwörtlichen Teufeln werden lassen. Psychische Erkrankungen, fehlendes Empathievermögen oder sozialkognitive Defizite gepaart mit der Erklärung, dass Mobbing als ein Ventil für angestaute Aggressionen aus anderen Bereichen (etwa der Familie) fungiert, werden präsentiert. Mobbende würden sich, wie etwa Wyrwa (2006) es beschreibt, am Leid anderer erfreuen, weil die dahinterstehenden Triebfedern Neid oder Eifersucht sind. Es müsse in solch einem „Kampf“ ein „Waffenstillstand“ durch Gegendruck erzielt werden. Das bedeutet, man müsse sich sogar – ob man will oder nicht – kurzzeitig auf die eigentlich abzulehnende Handlungsebene Mobbender einlassen.

Leicht effekthascherisch wird zusätzlich argumentiert, dass Mobber häufig selbst unter der Situation leiden würden, denn das Abladen des eigenen Frusts bei anderen Personen, um sich besser zu fühlen, sei Indikator für bestehende persönliche Unsicherheiten, die dadurch überspielt, das heißt kompensiert werden (vgl. z.B. Wyrwa, 2006; Cerutti & Weiss, 2022; März, 2023; Tornow, 2024). Andere vermuten auf Gruppenebene eine Art Wettkampf, wer die meisten Angriffe starten könne. Daraus würde sich ergeben, wer wie viel Macht besitzt und daher als „gewieft“ oder „cool“ gilt. Und weil die nicht aggressionsaffinen Mitglieder einer Gruppe oder Schulklasse Angst hätten, dass sie selbst zum Ziel der Mobber werden können, ist ein Gewährenlassen abgesichert (vgl. z.B. März, 2023). In einem Schwung wäre dadurch erklärbar, warum die Wissenschaft pro Jahr landesweit geschätzte 500.000 Mobbingfälle (Schäfer, 1996) und eine hohe Stabilität der Opferrolle in weiterführenden Schulen (Schäfer et al., 2005) berichtet.

Dass das Ganze mit dem Aufkommen von digitalen Interaktionsmöglichkeiten zusätzliche Sprengkraft erzeugt, weil eine neue Art von Mobbing namens „Cybermobbing“ dadurch entstehen kann, wird als Brisanz angeknüpft. Es schließen sich zumeist aktionistische Überlegungen mit einer klaren Opferfokussierung an. Zum einen will die Schuldfrage geklärt sein, indem Wiedergutmachung und Reue der Mobbenden eingefordert werden. Zum anderen wird das soziale Auffangen des Opfers priorisiert. Zuletzt wird mit dem moralischen Appell geschlossen, kein respektloser, kalter Mensch zu sein, sondern immer das Wohl aller im Blick zu behalten. Wer würde bei diesem schier übermannenden Haufen an Argumenten widersprechen wollen?

Draufsicht versus Einsicht

In der Wissenschaft sind vor allem Schüler respektive Jugendliche Untersuchungsgegenstand, da empirisch immer wieder bestätigt die Hochzeit von Mobbing in der Pubertät liegt (vgl. z.B. Olweus, 1993; Pellegrini & Long, 2002; Schäfer & Korn, 2004; Salmivalli & Voeten, 2004; Salmivalli, 2010). Und weil der Kontext „Schule“ eine Gruppe qua Schulpflicht zusammenhält während gleichsam der kognitiv-emotionale Reifegrad der Gruppenmitglieder so weit vorangeschritten ist, dass grundsätzliche Aussagen zur Mobbingmaschinerie möglich werden, bilden Schulklassen ein störungsarmes Untersuchungsfeld.

Befragt man Jugendliche, wer was wann genau in ihrer Klasse macht oder unterlässt (Peer-Reports), dann stellt sich überraschenderweise fast keine Passung zu den vorgestellten Argumenten ein. Beispielsweise differenzieren Schüler grundsätzlich zwischen drei aggressiven Rollen im Mobbinggeschehen, während in der öffentlichen Meinung (zu) oft von einer einheitlichen Tätergruppe gesprochen wird. Wer hierbei das ausgeprägtere Wissen hat, dürfte unstrittig sein. Denn es ist schwerlich vorstellbar, dass flächendeckend Schüler kaum Ahnung davon hätten, was in ihrer Klasse passiert respektive wer was wann unternimmt oder unterlässt. Es bedeutet zwar nicht, dass die Schüler erklären können, warum das Erlebte so funktioniert wie es funktioniert (vgl. Bandura & Walters, 1963), aber ihre berichteten Beobachtungen über ihre Mitschüler erweisen sich als sehr präzise; erst recht, da sie fünf Tage die Woche für mehr als sechs Stunden zusammen als Gruppe über Jahre hinweg existieren und die auf diesen Schülerangaben beruhenden Studien beständig das gleiche Bild zeichnen.

Ein erster, naheliegender Kritikpunkt wäre, dass zu oft reaktiv in Form von Sanktionen argumentiert wird. Das Problem hierbei ist, dass zum einen eine Schädigung eintreten muss und zum anderen maximal in Reaktion eine Schadensbegrenzung eingeleitet werden könnte. Die Schädigung an sich wird sowohl durch das bisher beschriebene Verständnis als auch durch die abgeleiteten Maßnahmen beziehungsweise Konsequenzen nicht verhindert.

Dabei gibt das in den letzten 30 Jahren erarbeitete, wissenschaftlich fundierte Wissen zur Rolle der Täter, Assistenten und Verstärker, die zusammen die Gruppe der Mobbenden bilden, einen schlüssigen Einblick in die dahinterstehende Psychologie (vgl. z.B. Salmivalli et al., 1996; Sutton et al., 1999). Mühselig in Trippelschritten erarbeitet, kann diese schlüssig und umfänglich erklären, warum Mobbing so passiert, wie es passiert und nicht anders. Die Gruppe der „Täter“ wird dabei aufgespalten, weil dadurch die Dynamik innerhalb aggressionsaffiner Gruppen laut den Mitschülern zutreffend(er) beschrieben und die wesentlichen Triebfedern für ihr Verhalten identifiziert werden können:

Im Rückgriff auf die bereits vorgestellten Argumentationsketten für Mobbing, lässt sich eine ebenfalls kritisch zu betrachtende Tendenz zur Bewertung in „gut“ und „böse“ erahnen. Die Psychologie als Wissenschaft liefert Erklärungen, die – so delikat sie auf den ersten Blick erscheinen mögen – keine Rechtfertigung sind. Das bedeutet, dass die Psychologie zu keinem Zeitpunkt bewertet. Oder anders ausgedrückt: Jeder Begriff, der verwendet wird, ist neutral und erlaubt deshalb tiefgründig zu verstehen.

Es bedeutet aber auch, dass die präsentierten Argumentationen allein aufgrund ihrer bewertenden Charakteristik in Frage gestellt werden können. Die Gefahr von Verzerrungseffekten in der eigenen Bewertung ist nicht zu unterschätzen, weil die rückblickende (auf eigenen Erfahrungen bauende) Erklärung einer Mobbingsituation durch die eigenen Motive (automatische Bewertungsschemata), eine selektive Wahrnehmung sowie reduziertes Abwägen wesentlicher Aspekte der Situation oder durch die soziale Erwünschtheit beeinflusst werden kann. Dies gilt erst recht, wenn es sich um emotional-moralisch aufreibende Situationen wie beispielsweise Mobbingepisoden handelt (vgl. Nederhof, 1985; Furnham, 1986; Paulhus, 2002; Meisenberg & Williams, 2008). Es ist im Übrigen einer der wesentlichen Gründe, warum Erhebungen auf der Verhaltensebene der Mitschüler (Peer-Reports) vielversprechender als die Auswertung von Eigenauskünften (Self-Reports) sind, sofern man ein Gruppenphänomen wie etwa Mobbing untersuchen möchte.

Nichtsdestotrotz schlummern im vorgestellten argumentativen Allerlei vier Annahmen, die als Orientierungspunkte gesetzt werden können, um die Perspektive der Aggressionsaffinen und Agierenden (Probullies) umfänglich zu erklären:

Ist Aggression böse? Oder warum ist Aggression so cool?

Plakativ kann ins Feld geführt werden, dass viele Zeitungsberichte bis dato den Eindruck erwecken können, dass insbesondere Jugendliche aggressiv und womöglich böswillig sind. Wenn beispielsweise die Münchner Polizei während der Coronapandemie 150 feiernde Jugendliche stoppen muss (Abendzeitung vom 16.01.2022, 12:33) oder 15 Heranwachsende, darunter Mädchen wie Jungen, drei andere Mädchen durch die Stadt Essen jagen und verprügeln (dpa vom 01.03.2022, 13:17) oder die Polizei Jugendliche nachts im Gemeindehaus erwischt (Esslinger Zeitung vom 22.05.2022, 14:56), alternativ mit Spielzeugwaffen hantiert, sodass ein Polizeigroßeinsatz ausgelöst wird (Spiegel vom 30.04.2022, 20:41) oder wenn auf genereller Ebene mit aggressiven Jugendlichen gehadert wird (Dickmann, 2023), dann erscheint das Label „verzogen, verrucht und ohne Anstand“ zur Charakterisierung Jugendlicher passend. Tausende Jahre alte Jugendkritik scheint berechtigt. Sokrates Urteil, dass Jugendliche von heute Tyrannen seien oder die Inschrift einer babylonischen Tontafel circa 1000 v.Chr., die die heutige Jugend als von Grund auf verdorben, böse, gottlos und faul bezeichnete, finden ihre Bestätigung.

Die bruchstückhaft recherchierbaren Reaktionen betroffener oder am jeweiligen Fall interessierter Jugendlicher lässt hingegen nicht den Eindruck entstehen, dass es sich hierbei um Böswillige handelt, die in ihrem späteren Leben zuhauf eine kriminelle Karriere einschlagen werden. Abgesehen von der Tatsache, dass jeder selbst jugendliche Erfahrungen besitzen dürfte, die rechtlich gesehen zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftatbestand oszillieren, stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass einerseits derartige Fälle immer wieder vorfallen, gleichsam aber ein Gespräch mit Jugendlichen eher mit Momenten offener Diskussion, das heißt einer gewissen Aufgeschlossenheit aber auch Naivität durchzogen ist.

Jugendliche Umgangsformen

Vieles dessen, was Kinder wie Jugendliche als Form des sozialen Umgangs kennen und schätzen, ist „Spiel“ (Zarbatany et al., 1990). Sehr vieles wird mit Neugier erkundet und spiegelt sich in ihrem pragmatischen Verhalten. All dies wurde in ihrer noch kurzen Lebenszeit wiederum im „Spiel“, der Verhaltensform, die ihnen am nächsten liegt, erlernt (vgl. Youniss & Smollar, 1985). Das heißt, dass der Begriff „Spiel“ für Heranwachsende funktional ist, weil dadurch beispielsweise soziale Situationen ausgetestet werden, um Grenzen und Wirkweisen des eigenen wie beobachtbaren Verhaltens kennenzulernen. Es ist zugleich eine erste Erklärung dafür, wieso soziale Situationen innerhalb von Jugendgruppen aus dem Ruder laufen können, während dieselben Personen in (Einzel)gesprächen in kaum einer Weise den Anschein erwecken, dass delinquentes beziehungsweise aggressives Verhalten stets von ihnen präferiert wird. Denn wenn im „Spiel“ das Mit- und Gegeneinander erkundet wird, dann ist die Kenntnis über die Psychologie der Gruppe, das heißt beeinflussende, gruppendynamische Prozesse nicht eingepreist. Um diese aber kennenzulernen, bedarf es des neugierigen, teilweise grenzüberscheitenden Erkundens und daraus resultierenden Kennenlernens von „Stopp & Go“-Reaktionen anderer (vgl. z.B. Krappmann & Oswald, 1995).

Der Begriff „Spiel“ meint daher ein Lernfeld, in dem freiwillige Handlungen oder Verhaltensformen, die innerhalb festgesetzter, von Gleichaltrigen (Peers) bestimmter Grenzen ebenso freiwillig angenommen und in jedem Fall bindend verstanden, wechselseitig erprobt und ausgetauscht werden (Huizinga, 1938). Die dahinterstehende Autonomie, eigenständig zu erkunden, wird von Heranwachsenden eingefordert respektive gesucht.

Alle Jugendlichen einer Gruppe orientieren sich aneinander und probieren (sich) aus. Dieser Perspektive folgend entsteht fast jede soziale Situation in der Kindheit respektive Jugend im „Spiel“. Das bedeutet, dass vieles durch Verhalten (unreflektiert) und weniges im Handeln (bedacht) entsteht. Beispielsweise übersetzt dies Albert Bandura (1977) mithilfe der sozial-kognitiven Lerntheorie, denn Nachahmen oder Imitieren beinhaltet zu wissen, was funktioniert und was nicht, aber nicht warum. Und aufgrund dessen, dass Kinder sukzessive qua ihrer kognitiven Entwicklung (vgl. Theory of Mind) in der Lage sind, ihr Verhalten zu reflektieren, ihm (subjektiv) einen Sinn zu geben sowie ihr „Spiel“ variantenreich kreativ zu erweitern oder zu optimieren (Groos, 1899; Rahner, 1990; Warwitz & Rudolf, 2004), werden durch den sehr pragmatischen Charakter jugendlichen Verhaltens Spielentwicklungen möglich, die Schädigungen anderer oder sich selbst in letzter Konsequenz nach sich ziehen. Sowohl die vorgestellten Zeitungsartikel als auch Mobbing gehören zu diesem sehr breiten Spektrum dazu.

Oder für den sich beschwerenden Sokrates und andere aufmerksame Beobachter präzise übersetzt: Im Sinne der Feldtheorie Lewins (1931), dass Verhalten eine Funktion von Person und Umwelt ist, bilden Peers respektive die eigene Schulklasse die Referenzgruppe. Sechs bis acht Stunden am Tag werden innerhalb der eigenen Klasse die Entwicklungsaufgaben1 Emotionale Unabhängigkeit von Eltern, Autonomiestreben und Aufbau eines eigenen Wertesystems (Individualentwicklung), Findung der eigenen sozialen Rolle (soziale Anpassung) der Pubertät ausgelotet. Die Konfrontation mit diesen ist unabdingbar für eine gesunde (Weiter)entwicklung eines Heranwachsenden (Havighurst, 1953), denn durch das selbstständige Meistern entwickeln sich Fertig- und Fähigkeiten, die es dem Heranwachsenden erlauben, sich beständig souveräner in den jeweiligen Kontexten zu bewegen. Ab und zu probiert jeder Jugendlicher dies für sich, aber genauso oft oder wenn nicht sogar öfters im Mit- und Gegeneinander (Sullivan, 1953; Bronfenbrenner, 1979; Lerner, 1991). Daraus erwächst unweigerlich ein Spannungsfeld zwischen den Polen der sozialen Anpassung (Zu wem möchte ich dazugehören?) und Individualentwicklung (Wer bin oder möchte ich sein?), in dem sich alle Heranwachsenden bewegen.

Beide Fragen nach Zugehörigkeit und Identität schließen sich öfters aus, als womöglich erahnt. Denn wenn beispielsweise vor den Augen der Eltern demonstrativ angepriesen wird, dass man eigenständig ist, weil man diszipliniert gleich zu Bett geht, während auf dem eigenen Smartphone in der Freundesgruppe ein spätnächtlicher Ausgang nach 0 Uhr geplant wird, dann ist es unmöglich so zu entscheiden, dass beide Bedürfnisse (als erwachsen gelten und im Freundeskreis eng eingewoben sein) in Einklang gebracht werden können. Und trotzdem muss eine Entscheidung gefällt werden.

Die erste Ebene: Delinquentes Verhalten

Über eine Zeitspanne von mindestens fünf bis zehn Jahren ist Teenagern nicht klar, in welchem Ausmaß echte Partizipation respektive Gestaltungsmacht ausgeübt werden kann (Erikson, 1960) Das heißt, dass die soziale Strukturierung moderner Gesellschaften das erwähnte Spannungsfeld durch ein Rollenvakuum verschärft. Das Bedürfnis nach Mitbestimmung ist eng mit der biologischen Reife des Heranwachsenden verbunden (Steinberg & Silverberg, 1986; Steinberg, 1987; Udry, 1988).

Zeitliche Entwicklung der Menarche
Abbildung 1: Entwicklung der Menarche nach Euling et al. (2008) und Gohlke & Woelfie (2009)

Früher denn je ist die sexuelle Reife abgeschlossen (Tanner, 1978; Wyshak & Frisch, 1982) und dennoch werden die meisten positiven Aspekte des Erwachsenenlebens hinausgezögert (Buchanan et al., 1992; Moffitt, 1993). Dieses Vakuum will ausgefüllt sein (Csikszentmihalyi & Larson, 1984; Moffitt 1993). Die Lücke zwischen der eigenen sozialen Rolle als Schüler sowie den eigenen Bedürfnissen oder aber auch Forderungen sind im Privaten wie in der Schule persistent.

Kriminalität und Lebensalter
Abbildung 2: Altersspezifische Kriminalitätsraten der Jahre 1938, 1961 und 1983 unter englischen Männern nach D. P. Farrington (1986)

Anders als vor der Pubertät ist gleichsam zu beobachten, dass antisoziale Verhaltensweisen ins Zentrum der Peer-Aufmerksamkeit rücken. Aggression, die grundsätzlich im Vergleich zu prosozialen Verhaltensformen einfach(er) anzuwenden, effektvoller und schneller wirkt, erlebt in dieser Phase einen Bedeutungswandel: Das Brechen sozialer Normen fungiert als Mittel zur Erlangung der begehrten sozialen Ressource Macht (Moffitt, 1993), weil es wirksam ist, um zu demonstrieren, wie autonom man bereits agieren kann und wie sehr man neuen Herausforderungen gewachsen ist (Erikson, 1960). Die Anbindung zu den bereits erwähnten Entwicklungsaufgaben ist offensichtlich: Die Verbindung zur Kindheit wird hinsichtlich der einbeschriebenen Abhängigkeiten gekappt. Es soll eindringlich bewiesen werden, dass Privilegien des Erwachsenseins einem selbst zustehen (Erikson, 1960). Und weil das beschriebene Rollenvakuum in modernen Gesellschaften markant ausgeprägt ist, lässt sich in der zeitlichen Entwicklung eine Erhöhung der Prävalenz, die beschränkt auf die Pubertät ist, beobachten (vgl. Abbildung 2, Moffitt, 1993).

Altersspezifische Verhaftungsraten des FBI (1980)
Abbildung 3: Altersspezifische Verhaftungsraten der Indexdelikte des Federal Bureau of Investigation (FBI) der Vereinigten Staaten im Jahr 1980

Dass die Pubertät die zeitlichen Grenzen dieser Entwicklung bildet, lässt sich nicht nur in Abbildung 2 und der vorgestellten Statistik des FBI zeigen. Erweiternd ist grundsätzlicher zu beobachten, dass nicht-delinquente Peergruppen bis zum 17. Lebensjahr durch soziales Nachahmen (vgl. Moynihan, 1968; Moffitt, 1993) an Mitgliedern verlieren (Moffitt, 1990; Moffitt, 1991; Elliott & Menard, 1996). Erst ab dem 18. Lebensjahr, das heißt zum Ende der Pubertät werden antisoziale Verhaltensweisen wieder mit mangelnder sozialer Kompetenz zur Freundschaftsbildung wie auch fehlender Loyalität verknüpft (Cleckley, 1976; Robins, 1985). Loeber & Hay (1997) argumentieren sogar, dass das systematische Unterlassen von delinquentem oder aggressivem Verhalten sogar Teil der Entwicklungsaufgaben der (späteren) Pubertät ist. Dahinter steckt eine Abkehr von einer Orientierung an externen Sanktionen für Normübertretungen hin zu einer internen Kontrolle des eigenen Verhaltens.

Von der Empirie zum Modell jugendlicher Delinquenz
Abbildung 4: Modell zur Erklärung auf die Adoleszenz beschränkte Delinquenz nach Moffitt (1993)

Zusammengefasst bedeutet dies, dass Aggression (Loeber & Hay, 1997) oder deren Gradient Delinquenz2 Delinquenz ist die Neigung, vornehmlich rechtliche, aber auch soziale Grenzen zu überschreiten. Daher zählt das Schwarzfahren oder das Rauchen auf dem Schulhof genauso dazu, wie das Besudeln von Hauswänden oder das nächtliche Betreten von Schwimmbädern im Sommer. (Moffitt, 1993) in der Pubertät attraktiv respektive „cool“ wird. Normbrechendes Verhalten wird in der geteilten Wahrnehmung einer Gruppe oder Schulklasse favorisiert. Ähnlich einer Schneeballdynamik werden die Normen innerhalb der eigenen Peergruppe reformiert: Die erste Person beginnt, indem sie am Erfolg validierte, gelernte Verhaltensmuster umsetzt (Bandura, 1979). Es gelingt ihr (dadurch) eine gewisse Autonomie aufgrund delinquentem/aggressivem Verhalten innerhalb der Peer-Gruppe zu demonstrieren. Die anderen (der gleichen Klasse) beobachten, registrieren respektive erleben die durchschlagende Wirkung des Verhaltens des Initiators und folgen sozial nachahmend (Bandura, 1977; Moffitt, 1993). Sobald eine kritische Masse an Delinquenten in der Gruppe erreicht wird, ist die Basis für Mobbing gesetzt (Espelage et al., 2000), weil die Gruppe normativ sozial neu „getaktet“ wird: Delinquenz und Aggression werden „salonfähig“ (vgl. auch Jessor & Jessor, 1973; Hawkins et al., 1992; DeRosier et al., 1994). Mobbing ist daher ein Phänomen, das durch die von Peers verursachte Veränderung einer wesentlichen Rahmenbedingung (Bedeutung von Aggression) wahrscheinlicher wird.

Die zweite Ebene: Dominanzstreben

Aggressives, normbrechendes Verhalten nach außen (gegenüber Erwachsenen) vor den Augen der Gleichaltrigen ist eine Möglichkeit, Autonomie zu demonstrieren. Eine andere besteht innerhalb der eigenen Klasse, indem gruppenintern qua Dominanz Gestaltungsräume (erzwingend) erschlossen werden können (vgl. Hawley, 1999). Sofern innerhalb eines Kontexts wie der Schule wenig Gestaltungsspielraum zum Mitbestimmen existiert, kann dieser zumindest im Kleinen innerhalb der eigenen Klasse gesucht, durch Mobbing eingenommen und ausgestaltet werden.

Unabhängig der Funktion von Delinquenz (Moffitt, 1993) ergänzt Dominanzstreben das aufgespannte Lernfeld durch eine regelhafte Prozessbeschreibung (Hawley, 1999). Dominanz muss hierbei ebenfalls neutral begriffen und funktional verstanden werden: Aus evolutionspsychologischer respektive verhaltensbiologischer Perspektive ist Dominanzstreben essenziell für das Überleben einer Gruppe. Würden 30% einer Population nicht nach Dominanzstreben, das heißt Hierarchiestrukturen2Hierarchie ist hierbei sehr weit gefasst: Eine Orientierung an einer Person ist denkbar. Genauso wäre aber auch die Orientierung an einem (strengeren, sozial kostspieligen) Regelkanon vorstellbar. innerhalb der Gruppe durch das Einnehmen von Führungspositionen schaffen, dann kann das soziale Wesen „Mensch“ in und durch eine Gruppe nicht lange existieren (vgl. z.B. Sosis & Bressler, 2003). Ohne Weisung oder ein Bestimmen kommt eine Gruppe sprichwörtlich zum Stillstand. Sie löst sich folglich in die Summe von Individuen auf. Der Schutzfaktor „Gruppe“ entfällt, was die Wahrscheinlichkeit des Überlebens in nicht zivilisatorisch geschützten Kontexten, mit denen sich der Mensch seit seiner Existenz weitestgehend konfrontiert sah, erheblich schmälert. Das bedeutet, dass auch Dominanzstreben eine Funktion besitzt, die auf sehr basaler Ebene innerhalb von Gruppen wirkt und nicht ausklammerbar ist.

Dominanzstreben ist (daher) ebenfalls eine Entwicklungsaufgabe (Hawley, 1999): Peers unterscheiden sich in ihrer Motivation und Fähigkeit, um Ressourcen zu konkurrieren. Einige sind aktiver und eher in der Lage das zu bekommen, was sie wollen. Der dadurch entstehende soziale Status spiegelt die manifestierten Asymmetrien wider, die zwischen Individuen in ressourcenbezogenen Motivationen und Fähigkeiten auftreten (Gartlan, 1968; Rowell, 1974; Strayer & Strayer, 1976; Bernstein, 1980, 1981). Je mehr Interaktionen geschehen, das heißt je länger eine Gruppe existiert, desto öfter mehren sich Erfahrungswerte, wer ebenfalls dominanzorientiert agiert, die gleichen Ziele verfolgt und wie die eigenen Fähigkeiten in Relation zu den anderen rangieren (Hawley, 1999). Dieses gegenseitige Verständnis über Können und Besitzen führt zu asymmetrischen Beziehungsschemata, das heißt hierarchischen Strukturen innerhalb der Gruppe (Rowell, 1974; Hinde & Stevenson-Hinde, 1976; Bernstein, 1981; Hand, 1986; Hawley & Little, 1999).

The adaptive rule of thumb in competitive encounters would be, ‘‘depending on who your opponent is, assert when you can prevail, yield when you cannot.’’ Accordingly, a dominance hierarchy summarizes these asymmetrical relationships.

Die Faustregel zur Anpassung in wetteifernden Auseinandersetzungen wäre: „Je nachdem, wer den Gegenüber ist, behaupte dich, wenn du durchsetzen kannst, gib nach, wenn du es nicht kannst.“ Dementsprechend fasst eine Dominanzhierarchie diese asymmetrischen Beziehungen zusammen.

Hawley, 1999, S.101–102

Die Entwicklung der unterliegenden Strategien von Reziprozität, Anbiederung und Manipulation erfordert unter anderem das Wissen darüber, dass andere Gruppenmitglieder einen ablehnen oder akzeptieren können. Dazu gehört auch die Kenntnis der Bedürfnisse und Wünsche der anderen Peers, die berücksichtigt werden müssen (Hawley, 1999). Das heißt, dass die Entwicklung der Theory of Mind eng mit der von Hawley (1999) beschriebenen Entwicklungsaufgabe verknüpft ist (vgl. Groos, 1899; Rahner, 1990; Warwitz & Rudolf, 2004), was wiederum erklärt, warum „erst“ in der Jugend derartige Verhaltensweisen beobachtbar sind.

Das beschriebene Verrücken der Aggression ins Zentrum der Gruppe während der Adoleszenz (Moffitt, 1993) bildet die Basis (Boivin et al., 1995), auf der sich Dominanzstreben entfaltet (Hawley, 1999, 2003). Aggression wird präferiert, um Dominanz zugesprochen zu bekommen. Präziser ausgedrückt: Durchsetzungsfähigkeit (Gough et al., 1951) und erzwingende-aggressive Kontrolle (Cattell et al., 1957) fallen zusammen, wenn sich soziale Dominanz eher auf die Ressourcenkontrolle als Mittel, mit der Kontrolle über Peers erreicht wird, konzentriert (Cairns et al., 1988; Hawley, 1999, 2003). Die Ausführungen schlagen damit einen direkten Bogen zu Mobbing, weil sie indirekt die Charakteristik des Gruppenphänomens spiegeln (vgl. Smith, 1994).

Böswilligkeit erklärt nicht viel

Integriert man beide vorgestellten Erklärungsebenen, dann kann nicht alle Aggression unter Jugendlichen aus Böswilligkeit entstehen. Das Erproben der Grenzen des Legalen ist nahezu universell, aber altersabhängig variabel (Elliot et al., 1983). Das gilt ebenso für das Explorieren, wie sozialer Status funktioniert und auf welchen Wegen dieser erreichbar ist. Gleichsam ist klar, dass beide Entwicklungsprozesse auf Gruppenebene immer wieder problematisch werden können. Erst recht, wenn sie in einem Kontext (Schule) stattfinden, der hierarchisch (Schäfer, 2003) und leistungsorientiert (DeRosier et al., 1994) strukturiert ist.

Adolescence-limited behavior is not pathological behavior. Its prevalence is so great that it is normative rather than abnormal. It is flexible and adaptable rather than rigid and stable. […] Instead of a biological basis in the nervous system, the origins of adolescence-limited delinquency lie in youngsters' best efforts to cope with the widening gap between biological and social maturity. Moreover, neither this theory nor the empirical evidence suggests that there are links between mental disorders and short-term adolescent delinquency.

Auf die Pubertät begrenztes Verhalten ist kein pathologisches Verhalten. Die Prävalenz ist so groß, dass es eher normativ als abnormal ist. Es ist flexibel und anpassungsfähig und nicht starr und stabil. [...] Anstelle einer biologischen Grundlage im Nervensystem liegen die Ursprünge der Jugendkriminalität in den Bemühungen der Jugendlichen, die wachsende Kluft zwischen biologischer und sozialer Reife zu überwinden. Außerdem deuten weder diese Theorie noch die empirischen Belege darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und kurzfristiger Jugendkriminalität gibt.

Moffitt, 1993, S.692

Diejenigen, die qua ihrer Rolle mehr bestimmen dürfen (z.B. Lehrer), leben (sogar) vor, dass Dominanz der wesentliche, alltägliche Taktgeber ist. Das heißt, dass sie unfreiwillig modellhaft (Bandura, 1977) dominanzorientierte Verhaltensweisen favorisieren. Wenn zusätzlich der Gestaltungsraum der Schüler auf die Leistungserbringung (Schulleistung) reduziert wird, dann verschärft dies zumindest die Wahrnehmung des beschriebenen Rollenvakuums sowie einer impliziten Hierarchisierung. Das bedeutet, dass eine Leistungsorientierung als Triebfeder für delinquentes bis aggressives Verhalten wirkt. Sind die Rahmenbedingungen allerdings so gestellt, dass sich ein größerer, von den Jugendlichen wahrgenommener und akzeptierter Gestaltungsspielraum ergibt, dann dürfte delinquentes oder dominanzorientiertes Verhalten weniger frequent sein, weil das Rollenvakuum zeitweilig aufgehoben wird (vgl. Moffitt, 1993). Dominanzorientiertes respektive delinquentes Verhalten auszuschalten, bleibt eine Utopie, weil es verhaltensbiologisch respektive evolutionspsychologisch, das heißt zu basal ist.

Ist Mobbing abschaffbar? Einmal Krach von außen und dann nie wieder?

Die Verbindung von Autonomiestreben, Rollenvakuum, pragmatischem Verhalten, Dominanz und dem Bedeutungswandel von Aggression wie Delinquenz ergibt aus erzieherischer Sicht ein Problemfeld, das sowohl Chancen wie Risiken beinhaltet. Es kann allein schon deshalb weder abgeschafft, umschifft oder unterdrückt werden, weil ein autonomes Erkunden und Ausprobieren ständig möglich sein muss, wenn die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz gelingen soll. Hierzu zählt auch das große Verhaltensspektrum des „Playfighting“, das äußerlich wie Aggression aussieht, de facto aber Teil des Auslotens des Umgangs miteinander respektive das Kennenlernen von Grenzen abbildet (Krappmann & Oswald, 1995).

Jede Reibung innerhalb einer Gruppe ist eine aufmerksamkeitsbindende, starke Situation (vgl. Krueger, 2009), das heißt eine Möglichkeit zum Lernen. Sie kann aber auch pro Dominanz funktionieren, vor allem wenn die Gruppenmitglieder selbst pragmatisch explorieren und dabei die Schädigung einzelner „nebenbei“ verursacht wird. Das gilt insbesondere für Mobbing, weil die systematisch gegen eine Person gerichtete Aggression das Mittel zum Zweck ist, um das Ziel, die Etablierung und Manifestierung des eigenen sozialen Status zu erreichen.

Die auf Adoleszenz limitierte Delinquenz und in Erweiterung Aggression beschreibt ein Adaptieren in einem schwerlich systemisch veränderbaren Kontext (z.B. Schule). Das bedeutet, dass verschiedene „Spielarten“ der Aggression immer wieder aufflammen können. Die Spielregeln (Normen der Gruppe), die die Entwicklung des sozialen Status (Dominanz) innerhalb einer geschlossenen Jugendgruppe systematisieren, erwachsen salopp gesprochen organisch (unreflektiert, pragmatisch), weil sie Teil einer Entwicklungsaufgabe sind, die alle Jugendlichen beschäftigt. Weil dies das Substrat bildet, aus dem Mobbing erwachsen kann, wird einsehbar, warum Mobbing generell nicht auszulöschen ist. Das Gruppenphänomen, das heißt eine „Spielart“ von Aggression auf Gruppenebene kann sich durch die beschriebenen Gegebenheiten jederzeit (wieder) entwickeln.

Die Argumentation, dass dadurch eine kontinuierliche Begleitung4Begleitung meint Moderation, nicht aber Beratung. Begleitung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sie niemals ins Belehrende abrutschen darf. Es braucht Anregung, um der Gruppe zu ermöglichen, Ressourcen als schon vorhandenes Potenzial zu erkennen und als gemeinsames Wissen nutzen zu lernen.(!) auf erzieherische Ebene von jugendlichen Gruppen (Schulklassen) angezeigt wird, ist zielführender als die nachlesbare Hoffnung, dass es einen „endgültigen“, schablonenhaften Kampf gegen Mobbing geben kann. Es bekräftigt den moderierenden Charakter Erwachsener und setzt sogleich klare Grenzen bezüglich der Einflussnahme von außen. Metastudien zur Evaluation von Interventions- wie Präventionsprojekten gegen Mobbing unterstreichen dies empirisch, weil die beste Prävention und Intervention aus der Klasse selbst kommt (vgl. Polanin et al., 2012).

Das zuvor beschriebene Wirkgefüge von Dominanz, Delinquenz respektive Aggression und den dahinterstehenden Entwicklungsaufgaben steht unabdingbar im Zentrum und wird durch die Peerorientierung angetrieben. Diese ist wiederum eine Erklärung, warum Gleichaltrige (Peers) maßgeblich bestimmen, ob und wie miteinander in der eigenen Gruppe umgegangen wird. Wenn Mobbing in kontrollfreien Räumen stattfindet und Dominanz von der Gruppe zugestanden wird, dann unterstreicht dies zusätzlich die Bedeutung der Peers. Auch daher wird Mobbing als ein Gruppenphänomen verstanden. Nicht deshalb, weil es in einer Gruppe stattfindet, sondern weil es nur durch sie möglich wird.

Die sind ja doof! Oder: Lässt sich Mobbingverhalten durch Defizite erklären?

Mobbing ist der wiederholte, systematische Missbrauch sozialer Macht in kontrollfreien Räumen hierarchisch strukturierter Systeme (Smith, 1994). Diese Definition provoziert, dass Probullies (Täter, Assistenten und Verstärker) sich nicht nur reaktiv, sondern vorallem proaktiv geschickt im Kontext Klasse bewegen müssen, um erfolgreich zu sein (vgl. Hall & Cairns, 1984; Cairns et al., 1988; Crick & Dodge, 1996; Hawley, 1999; La Fontana & Cillessen, 2002). Was Niccolò Machiavelli auf Staatsebene in „Il Principe“ im Jahr 1532 theoretisierte, scheint für potenziell erfolgreiche Probullies ebenfalls zu gelten: Weil die begrenzte Ressource Macht gegeben wird und folglich Klassenhierarchie nicht von Dominanzstrebenden alleinig gestaltet werden kann, ist ein ausgeklügeltes „Spiel“ von Drohung und Einbeziehung notwendig, um möglichst alle davon zu überzeugen, dass man selbst der Dominante ist. Vor allem diejenigen, die passiv danebenstehen respektive sich raushalten, sind in den Augen Aggressionsaffiner interessant, weil die Haltungen derer, die schikanieren, und derer, die verteidigen, für alle in der Gruppe bekannt sind (Salmivalli et al., 1996; Smith & Brain, 2000; Schäfer, 2013).

Mobbing ist funktionales Verhalten. Das heißt, es verfolgt ein gewisses, gar strategisch komplexes Ziel, das wiederum nicht durchweg durch bewusstes Handeln, aber in jedem Fall durch am Erfolg gelerntes, taktisches Vorgehen versucht wird zu erreichen. Soziale Macht in kontinuierlich bestehenden Gruppen in hierarchisch organisierten Systemen, wo ein Entkommen schwierig ist, wird missbraucht, um die eigene soziale Positionierung in der Gruppe aufzuwerten und zu manifestieren. Die hierfür notwendige Machtdemonstration wird an einem physisch oder psychisch schwächeren Individuum durch soziale Degradierungen ausgeübt. Das Opfer ist salopp gesprochen Kollateralschaden, um die umgebende Gruppe zu manipulieren. Die Schädigung respektive Aggression ist nicht das Ziel, sondern das Demonstrationsmittel zur Erreichung eines hohen sozialen Status. Die Gruppe ist daher das manipulierte Agens, weil sie festlegt, ob und in welchem Ausmaß der nach Dominanz Strebende Macht zugesprochen bekommt. Kurzum: Wer Mobbing meint, sagt Instrumentalisierung, aber nicht Feindschaft.

Da Mobbing psychologisch persistent funktioniert (Rivers & Smith, 1994; Alsaker & Brunner, 1999; Smith & Brain, 2000), Aggression in der Pubertät gangbarer ist (Moffitt, 1993), und in diesem Zeitraum der prozentuale Anteil passiver Außenstehender auf Kosten der Verteidiger wächst (vgl. Wolfgang et al., 1972; Loeber et al., 1989; Elliott & Menard, 1996; Pozzoli et al., 2012), können Probullies darauf bauen, dass deren Aktionen als weniger ablehnungsbedürftig erscheinen. Das bedeutet, dass die Grenze zwischen akzeptablem (Mobbing wird abgelehnt) und abgelehnten (Mobbing wird verstärkt und verursacht) Verhaltensformen sich langsam verschiebt respektive verschieben lässt. Was zuvor in der Kindheit klar Ablehnung fand, kann für den Zeitraum der Pubertät mehr und mehr in den Augen aller Klassenmitglieder gangbar werden. Dass diese Veränderung von den Aggressionsaffinen wahrgenommen wird, lässt sich schwerlich bestreiten. Das heißt, dass die für Mobbing notwendige Fähigkeit zur Registrierung der veränderten Rahmenbedingungen ebenfalls dafürspricht, dass Mobbende nicht stumpf willfährig draufhauen, sondern manipulativ geschickt günstige Gelegenheiten erkennen und zu nutzen wissen.

Die Bestätigung findet sich ebenfalls in der Empirie: Fügt man den bisherigen Ausführungen hinzu, dass Mobbing sich hauptsächlich durch relativ „mild“ erscheinende Aggressionsformen wie verbale Beschimpfungen oder andere stille, aber psychologisch massiv schädigende Aktionen auszeichnet (Teräsahjo & Salmivalli, 2003), dann ist implizit bereits genügend Evidenz vorhanden, die klar gegen Defizithypothesen spricht.

Theory of Mind Entwicklung in der Grundschule
Abbildung 5: Querschnittliche Entwicklung der Theory of Mind über die Jahrgangsstufen der Grundschule hinweg nach Hörmann et al. (2008)

Die vorgestellte, indirekte Beweisführung findet ihren Widerhall in direkten Messungen (Abbildung 5). In der Zeit der dritten und vierten Klasse können Kinder erstmals aufgrund ihrer sozio-kognitiven Entwicklung zwei verschiedene Perspektiven voneinander unterscheiden, Motivationen hinter Sichtweisen verstehen sowie die Perspektive einer dritten unabhängigen Person einnehmen. Das heißt, dass die Fähigkeit zur Repräsentation von Gruppe entsteht.

In diesem Zeitraum ist kein Unterschied (mehr) in dieser Fähigkeit zwischen Verteidigern und Tätern festzustellen (Hörmann et al., 2008). Die Ergebnisse in Abbildung 4 liegen in einer Linie zur Forschung von Sutton und Kollegen (1999), Gini (2006) und in Erweiterung Schäfer und Stoiber (2013), die die sozio-kognitive Überlegenheit der Täter gegenüber ihren Mitschülern bestätigen.

Dass Monks und Kollegen (2005) dieses Muster für Vier- bis Sechsjährige nicht finden, ist kein Widerspruch, sondern zeigt, dass Mobbing klar mit der Fähigkeit zur Manipulation, das heißt mit der Entwicklung der Theory of Mind verbunden ist. Nebenbei bemerkt ist daher Mobbing in der Grundschule ein noch untergeordnetes Problem. Mobbingfälle sind dadurch aber nicht ausgeschlossen, denn Imitation anhand selbst beobachteter Verhaltensweisen (vgl. z.B. Bandura & Walters, 1963) sind Triebfedern dafür, dass Mobbingaktionen eingeübt werden können.

Vergleich dominanter versus weniger dominanter Täter
Abbildung 6: Vergleich zweier von der gesamten Klasse wahrgenommener Tätertypen in weiterführenden Schulen

Die in der ersten und zweiten Klasse vorwiegend körperliche Aggression wird in der dritten und vierten durch vorwiegend psychische Aggression abgelöst (Hörmann et al., 2008). Diese unheilsame Entwicklung immer geschickter, machiavellistisch vorgehender Probullies zieht sich nahtlos in der weiterführenden Schule fort. Diejenigen Täter, die überdurchschnittlich viel Dominanz von der gesamten Klasse zugesprochen bekommen, sind gleichzeitig im Vergleich zu allen anderen Aggressionsaffinen oder direkten Konkurrenten mit sehr großem Abstand populärer, einflussreicher und agieren machiavellistisch/bistrategisch geschickter.

Das heißt, dass sie ihr von den Mitschülern berichtetes Profil beweisen, dass Mobbing Instrumentalisierung bedeutet, nicht aber böswillige Feindschaft. Auf Basis der Berichte der Schüler, die am nächsten am Mobbinggeschehen sind (N=1882), wird direkt messbar ersichtlich, dass Täter nicht dumm und stark sind, sondern manipulativ und geschickt. Das bedeutet summa summarum, dass die Argumente einer Defizithypothese für Mobbende (Dodge, 1986; Crick & Dodge, 1994; Arsenio & Lemerise, 2001) sukzessive verblassen.

Das geschickte, dynamische Aufschwingen dominanzorientierter Jugendlicher spiegelt sich modellhaft in der Entstehung, Konsolidierung und im Manifestieren eines Mobbingsystems wider. Ähnlich zur Exploration von Delinquenz (Moffitt, 1993) und Dominanz (Hawley, 1999) beschreibt Schäfer (2003) drei Stadien, die sich aus den Wechselwirkungen zwischen den Gruppenmitgliedern ableiten lassen: Sofern der Täter durch Attacken gegen viele verschiedene Kinder ein vom Kontext abhängiges, geeignetes Opfer explorativ identifizieren konnte, werden anschließend durch systematische Attacken die sozialen Normen der Klasse ausgetestet. Das heißt, dass die Gemengelage verschiedener Haltungen provoziert wird, sodass das Mitschülerverhalten entscheidend dazu beiträgt, ob Mobbing unterbrochen wird oder sich verfestigt (Schäfer, 2003). Dadurch, dass Täter genauso gut wie Verteidiger die Perspektivenübernahme beherrschen, kann anhand der Reaktion der Klasse abgeschätzt werden, inwiefern ein Adaptieren notwendig ist (Explorationsphase) und auf welche Art wer bespielt werden muss (Konsolidierungsphase), um das Ziel Dominanz zu erreichen (Manifestationsphase).

Zündstoff für noch Schlimmeres? Ist Cybermobbing ein neues Phänomen?

Die öffentliche Meinung scheint sich ebenso einig, dass Cybermobbing eine andere Qualität besitzt als „klassisches“ Mobbing. Der weiße Ring e.V. spricht beispielsweise vom „Fertigmachen 2.0“, das einer gewissen Willkürlichkeit unterliegt, weil jeder im Netz gleich stark gefährdet sei. Abermals werden Konflikt, Mobbing und Cybermobbing indifferent verwendet (vgl. z.B. Informationsseite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend), während gleichzeitig darauf gedrängt wird, Cybermobbing gezielt anders zu denken und zu behandeln wie etwa Mobbing. Aus Angst etwa selbst zum Opfer zu werden, würde so manch einer lieber auf der Gewinnerseite stehen wollen. Interkulturelle Konflikte, Langeweile, Minderwertigkeitskomplexe und persönliche Krisen werden zusätzlich angeführt. Das heißt, dass die Defizithypothese abermals bemüht wird. Zwar würden sich einige Motive zu „klassischem“ Mobbing überschneiden, weil es aber im Digitalen stattfindet, sei eine andere Dynamik zu beobachten und ein Adaptieren respektive (fundamentales) Neudenken notwendig (vgl. z.B. Bündnis gegen Cybermobbing e.V.).

Anstatt (subjektive) Ansichten von außen zum Maßstab zu setzen, lohnt es sich auch hier die Berichte der Schüler über ihre Mitschüler systematisch unter die Lupe zu nehmen. Sie bestätigen, was beispielsweise Olweus & Limber (2010) in großen skandinavischen Datensätzen bereits andeuteten respektive schlussfolgerten (Olweus, 2012): Ein substanzieller Teil der Schüler wird im Cyberspace schikaniert. Das heißt, dass Mobbing im Digitalen beobachtbar ist. Allerdings: Die individuelle Perspektive zur Erklärung der Ursachen greift auch hier zu kurz.

Mitschülerberichte (Peer-Reports) von 1631 Schülern der siebten bis zehnten Jahrgangsstufe aus vier Schulen respektive 67 Klassen beschreiben ein Wirkgefüge, das Cybermobbing eindeutig als effektive Erweiterung „klassischen“ Mobbings erklärt. Einen ersten Hinweis darauf liefern die Einsichten, welcher Tätertyp nach Auskunft der Mitschüler wie aktiv in den verschiedenen Hemisphären des Schikanierens ist.

Formen der Schikane dreier Tätertypen
Abbildung 7: Vergleich dreier Tätertypen und deren rollenspezifisches Agieren im Vergleich

Diejenigen Täter, die sowohl in der Klasse als auch außerhalb dieser aktiv sind, sind verbal, relational, im Anstiften wie auf physisch aggressiver als diejenigen, die nur in der eigenen Klasse respektive nur im Digitalen mobben. Sie sind diejenige Tätergruppe, die unabhängig der Jahrgangsstufe am häufigsten in Schulklassen auffindbar ist (N=72), während die Gruppen der Cybertäter oder nur im Schulkontext aktive Täter (N=21) maximal halb so groß sind. Differenziert man diese drei Typen nochmals hinsichtlich der bereits vorgestellten Logik, welcher Tätertypus wieviel Dominanz zugesprochen bekommt, dann zeigt sich noch eindrucksvoller, wie effektiv Schikane innerhalb wie außerhalb der Schule im Verbund wirkt.

Drei Tätertypen und deren sozialen Status Drei Tätertypen und deren sozialen Status Abbildung 8: Vergleich dreier Tätertypen und deren sozialen Status

Diejenigen Täter, die auf das, was im Web für die Klasse nachlesbar ist, miterlebbare Taten im Schulkontext folgen lassen, wird überwiegend (65.3%) viel Dominanz von der gesamten Klasse zugesprochen. Die anderen beiden Tätertypen haben mehr Mühe a) die Aufmerksamkeit der gesamten Klasse auf sich ziehen zu können und b) daraus Kapital in Form von Dominanz zu schlagen (54.3% der „Cybertäter“, 38.1% der „Täter“). Es erscheint auch aus psychologisch-theoretischer Perspektive nachvollziehbar, dass sich die Erweiterung der Schikane aus dem Klassenzimmer ins Digitale anbietet, weil dadurch die Aufmerksamkeit aller Mitschüler persistent und konsequent gebunden wird, um zu beliebiger Zeit effektvoll Machtdemonstrationen verüben zu können. Agiert man nur innerhalb des Kontexts „Schule“, dann werden wesentliche Bereiche, in der heutzutage „Klasse“ weiterhin stattfindet, nicht bespielt, um zum Bestimmer der eigenen Klasse avancieren zu können. Agiert man überwiegend nur im Digitalen, dann wird ebenso nur ein sozialer Teilraum bespielt, der nicht ausreicht, um nachhaltig einen hohen sozialen Status von den Peers zugesprochen zu bekommen. Es werden dadurch Gestaltungsräume offengelassen, die von anderen Mitgliedern der Klasse eingenommen werden können. Es ist kontraproduktiv, wenn die leicht im Digitalen zu verfassenden (verbalen) Attacken nicht ihren Widerhall im Realen finden, denn um es mit den Worten der Schulklasse zu beschreiben: „Wer auf Sprüche o.Ä. keine echten Taten folgen lässt, ist einfach nur ein nervender Sprücheklopfer“.

Wie effektvoll die Kombination von digitalem und „klassischem“ Mobbing ist, lässt sich an den Konsequenzen für das Opfer, berichtet durch die Klasse, illustrieren:

Soziale Einbindung der Opfer
Abbildung 9: Vergleich dreier Opfertypen und deren sozialen Eingebundenheit im Klassenkontext

Auf den ersten Blick wird ersichtlich, dass der wesentliche Schutzfaktor „Eingebundenheit in der Klasse“ für Opfer, die überwiegend nur digital schikaniert werden, nicht verschwunden ist. Sie besitzen ungefähr genauso viele, wenn nicht gar etwas mehr Freundschaften als der Klassendurchschnitt. Ihre Beliebtheit (soziale Präferenz) ist ebenfalls durchschnittlich. Allerdings wird ihnen eher weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Diejenigen Schüler, die entweder nur in ihrer Klasse oder zusätzlich im Cyberspace systematisch drangsaliert werden, sind ersichtlich sozial isoliert(er) und leiden ableitbar viel schwerer unter diesem Zustand. Die größte Schädigung tritt dann ein, wenn sie persistent und konsequent, das heißt während der Schule und in der Freizeit innerhalb des Klassenverbunds, der digital stets existiert, angegangen werden. Jegliche Aufmerksamkeit wird dem Opfer entzogen, die soziale Ablehnung (stark negative soziale Präferenz) steigt auf einen Höchstwert und auch die Anzahl an Freundschaften nimmt stark ab.

Das heißt im Umkehrschluss, dass Cybermobbing eine Erweiterung außerhalb der Schule ist. Aufgrund des Profils der verschiedenen Täter- und Opfertypen lässt sich sogar erahnen, dass wenn Cybermobbingfälle auftreten, die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass bereits in der jeweiligen Klasse ein ausgewachsenes Mobbingsystem sich etabliert hat. Dementsprechend ist laut den Auskünften der Schüler (Betroffenen) Cybermobbing kein neues Phänomen, sondern eine effektvolle Erweiterung „klassischen“ Mobbings über den Schulkontext hinaus.

Literaturverzeichnis

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