Der Täter-Opfer Fokus
Was ist Ursache und was Symptom?

Dall-E & Hannes Letsch, 2024
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Die Begegnung mit Komplexität ist verfänglich, weil die schnell aufkommende Intransparenz Interessierten oder Betroffenen nicht viel anderes übriglässt, als sich auf den eigenen oder im Internet nachlesbaren Erfahrungsschatz zurückzuziehen. Daraus entsteht meist eine Sackgasse, denn auch digital Niedergeschriebenes ist oftmals subjektiv gefärbt und versucht Komplexität überproportional stark einzukochen (vgl. z.B. Meßmer et al., 2021), was insbesondere bei komplexen Problemstellungen beobachtet werden kann (vgl. z.B. Kamp-Becker et al., 2019). Der vermeintlichen Paradoxie, dass auch dieser längliche Artikel zum Fundus digitaler Beiträge gehört, sollen alle nachstehenden Absätze entgegenwirken, weil sie versuchen, Komplexität greifbar zu machen. „Woher kommt Mobbing und wie vergeht Mobbing wieder?“ ist eine zentrale Frage, fordert aber sogleich das Verständnis der gesamten zugehörigen Komplexität ein. Das bedeutet aber, dass die Bereitschaft, Komplexität zu durchdringen, notwendig ist, möchte man „Mobbing“ verstehen und vielleicht sogar beherrschen lernen.

Die üblicherweise zu beobachtende Reaktion der Beteiligten ist eine indirekte Teilnahme, indem sich jeder eine Meinung basierend auf dem eigenen Erfahrungswissen erlaubt – und das zumeist im Affekt, recht schnell, um möglichst zielgerichtet der spürbaren Intransparenz zu begegnen. „Ja, so und nicht anders!“ oder ein gegenteiliges „Nein, so geht das nie!“ werden formuliert, ohne zu erkennen, dass die einfärbige Argumentation kaum fundiert, das heißt mit festen Argumenten untermauert ist. Das bedeutet, dass viele Verzerrungseffekte die gewünschte Einsicht trüben können (vgl. Nederhof, 1985; Furnham, 1986; Paulhus, 2002; Meisenberg & Williams, 2008).

Eine alternative, vorsichtigere aber eben auch fundiertere Herangehensweise sind wissenschaftliche Modelle. Diese sind in der Psychologie zumeist aufgrund von (systematischen) Beobachtungen motiviert. Allerdings stellen Modelle immer nur einen Teil der Realität dar und sind unterschiedlich gut darin, diesen Teil möglichst exakt abzubilden. Das liegt beispielsweise daran, dass es dem Wissenschaftler obliegt zu bestimmen, welche Prozesse oder Beobachtungen inkludiert und welche vernachlässigt werden. Daher erweist sich erst im Laufe weiterer Forschungsjahre, welche Stärken und Schwächen jedes Modell besitzt; das heißt, wie weitreichend es in seiner Vorhersage- oder Erklärungskraft ist.

Der sogenannte „Täter-Opfer-Fokus“, der Mobbingepisoden in einer Klasse versucht zu beleuchten, ist solch ein Modell. Wie alle Modelle kann auch dieser Ansatz nicht direkt verifiziert werden, denn die Realität ist „offen“. Die Übereinstimmung von modelliertem und beobachtetem Zustand kann aufgrund der Fähigkeiten des Modells oder aufgrund zufälliger (unbekannter) äußerer Einflüsse auftreten, die vom Modell nicht berücksichtigt werden. Das bedeutet: Ja, alle Modelle sind daher „falsch“. Sie sind Idealisierungen, weil immer etwas weggelassen wird. Sie versuchen das zu betrachtende System auf das Wesentliche zu reduzieren.

Das heißt aber nicht, dass sie zu vernachlässigen sind. Ihre Stärke beruht beispielsweise darin, dass sie sich der Objektivierung und Systematisierung verschreiben. Und diese Objektivierung beruht wieder auf der Erfassung sehr vieler Einzelerfahrungen verschiedener Personen, die statistisch ausgewertet werden. Durch die sehr große Anzahl lassen sie Mess- und Wahrnehmungsfehler erheblich kleiner werden. Denn wenn sich a) über die Zeit b) in unabhängig voneinander agierenden Forschungsgruppen c) auf Basis von möglichst objektiven Messungen sich d) immer wieder die gleichen statistischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Modellelementen e) kulturunabhängig einstellen, dann kann man sich mehr und mehr begründet darauf stützen, dass das jeweilige Modell im eigens angestrebten Erklärungsraum gute Arbeit leistet.

Für den Täter-Opfer-Fokus lassen sich daher zwei Fragen festhalten, die eine Einordnung als potenzieller Erklärer des Gruppenphänomens Mobbing erlauben:

Der Täter-Opfer-Fokus als Modell Was sind die Stärken und Schwächen des Modells?

Mobbing ist ein Subtyp aggressiven Verhaltens. Weil die Begriffe „Mobbing“ und „Konflikt“ simultan in der Aggressionsforschung existieren, bedeutet dies, dass Mobbing nicht mit einem Konflikt gleichgesetzt werden kann. Sowohl die Ursache als auch verschiedene, beobachtbare Kennzeichen differenzieren klar zwischen beiden Typen:

Mobbing Konflikt
asymmetrisch: viele gegen einen symmetrisch: körperlich oder in sozialem Status vergleichbar starke Kontrahenten oder Gruppen
Einer strebt nach sozialer Macht auf Gruppenebene Zwei streben nach der Durchsetzung des eigenen Willens
Proaktiv funktional eingesetzt (Boulton & Smith, 1994), um die Gruppe zu instrumentalisieren Vorwiegend reaktiv wird versucht, die Gegenposition dazu zu bewegen, sich unterzuordnen.
Keine Beziehung: Zwischen aggressiv Agierenden und Geschädigten besteht oftmals keine Beziehung, weder positiv (Freundschaft) noch negativ (Feindschaft) Es besteht eine Beziehung zwischen den Kontrahenten: Womöglich entstanden aus einer Freundschaft, aber sicherlich in einer (vorübergehenden) Feindschaft endend
aggressive Demonstration vor der Gruppe Auseinandersetzung abseits des generellen, täglichen Mit-, Für- und Gegeneinanders der eigenen Gruppe
Systematisch und funktional: Als Taktik der kleinen Nadelstiche wird systematisch gegen ein selbstgewähltes Opfer vorgegangen, um an diesem vor den Augen aller zu demonstrieren, was man sich alles erlauben kann. Viel stärker situativ: Solange der Zwist oder die nicht vereinbaren Positionen bestehen, wird versucht, die andere Seite davon zu überzeugen, dass der eigenen zu folgen ist. Umgebende, die nicht Teil des Konflikts sind, erhalten keine Beachtung.
Tabelle 1: Vergleich zweier Aggressionsformen: Mobbing und Konflikt

Es bedeutet, dass das gemeinsame, nämlich aggressives Verhalten ein Mittel ist, um sowohl bei einem Konflikt als auch bei Mobbing sein Ziel durchzusetzen. Aggression ist Symptom. Die Ziele, das heißt Ursachen differieren allerdings stark voneinander. Diese Differenzierung im Hinterkopf zu behalten ist wesentlich, weil der Täter-Opfer-Fokus sich trotz der Tatsache, dass Mobbing auf Gruppenebene funktioniert, recht überschaubar mit den Geschädigten (Opfer) und aggressiv Agierenden (Täter) beschäftigt. Das zugehörige Modell versucht die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Rollen respektive Personen zu erklären. Das heißt zum einen, dass zunächst eine Konstellation gesetzt wird, die sich eher in Richtung einer Konfliktsituation orientiert, weil nicht alle Gruppenmitglieder, sondern nur zwei vermeintliche(!) „Konfliktparteien“ in den Fokus genommen werden. Zum anderen sind dadurch vor allem Fragen zu den Beweggründen der aggressiv Agierenden, den Ursachen von Mobbing und den Konsequenzen für die Geschädigten beleuchtet.

Was sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt herauskristallisiert, ist, dass das Modell sehr strikte Grenzen und nur einen kleinen Bereich erklären wird. Denn wenn Mobbing vorwiegend als „Gruppenprozess“ gesetzt wird und viele Wissenschaftler wie Gesetzgeber auf Basis des momentanen Wissenstands die Überzeugung teilen, dass Intervention wie Prävention gegen Mobbing auf Gruppen- anstatt auf individueller Ebene geschehen muss (vgl. z.B. Salmivalli, 2010), dann lässt sich erahnen, dass der Täter-Opfer-Fokus keine weitreichenden Wirkketten liefern kann. Dennoch wurden aus dieser Perspektive einige Erkenntnisse gewonnen.

Die Stärke des Modells

Die Stärke des Täter-Opfer-Fokus ist seine Erklärungskraft für die Opferrolle in Form der Analyse der Langzeiteffekte von Mobbing (im Schulkontext). Anhand der Häufigkeit und Intensität der berichteten, körperlichen, verbalen und sozialen Attacken kann die Viktimisierung identifiziert werden (Schäfer et al., 2004b). Die wichtigsten Ergebnisse betreffen hierbei die Beziehungsqualität im Erwachsenenleben, insbesondere die Selbstwahrnehmung, den Beziehungsstil und die Qualität der Freundschaften. Die resultierenden Erkenntnisse mehrerer Studien legen insgesamt den Schluss nahe, dass ein überdauerndes Gefangensein in der Opferrolle negative Konsequenzen für die Selbstwahrnehmung sowie die Beziehung zu anderen hat. Und dies ist wiederum unabhängig des Geschlechts, des später angestrebten Berufs oder der kulturellen Herkunft (Schäfer et al. 2004b).

Das Selbstkonzept wird am stärksten in Mitleidenschaft gezogen: Eine erhöhte emotionale Einsamkeit sowie ein deutlich niedrigeres Selbstwertgefühl1 Bewertung des Bildes von sich selbst, das heißt die grundlegende Einstellung gegenüber der eigenen Person. Alltäglich auch als Selbstachtung, Selbstbewusstsein oder Selbstvertrauen bezeichnet ist der Begriff des Selbstwerts der alleinig existierende Begriff in der Psychologie. auf genereller wie auch spezifischer (gegenüber dem gleichen und anderen Geschlecht) Ebene sind Folgen von Mobbing. Außerdem zeigen sich Schwierigkeiten in der Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Freundschaften, was mit der gleichzeitig erhöhten Rate eines „ängstlichen“ Bindungsstils verknüpft werden kann (Schäfer et al., 2004b). Es bedeutet, dass sich Opfer unwohler dabei fühlen, anderen näher zu kommen, obwohl sie sich emotional enge Beziehungen wünschen. So fällt es ihnen schwer, anderen zu vertrauen, weil sie (erfahrungsbasiert) befürchten, verletzt zu werden, wenn sie sich zu nahe an jemanden heranwagen. Es liegt hierbei nahe, dass der Grad der Schädigung mit der Dauer und Vehemenz der Mobbingattacken zusammenhängt. Dies gilt vor allem für die weiterführenden Schulen, weil gesichert ist, dass in der Sekundarstufe Opfer länger als sechs Monate viktimisiert werden (Hodges & Perry, 1999; Smith & Shu, 2000), während in der Grundschule die Opferrolle erheblich instabiler ist (Monks et al., 2003; Schäfer & Albrecht, 2004).

Auf Basis dieser Perspektive konnten weiterführende Erkenntnisse gewonnen werden, ob es ein typisches Mobbingopfer gibt. Schließlich wäre es hypothetisch denkbar, dass gewisse Charaktereigenschaften oder Äußerlichkeiten die Wahrscheinlichkeit erhöhen, zum Opfer werden zu können. In großen Längsschnittdatensätzen ließ sich zeigen, dass Opfer in der Grundschule zu sein, kein Risikofaktor dafür ist, ebenfalls Opfer in der Sekundarstufe zu werden (Schäfer et al., 2004a). In Zahlen ausgesprochen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein sich in der Opferrolle befindender Grundschüler in der Sekundarstufe wieder zum Opfer wird, ist genauso hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht mehr zum Opfer wird. Das bedeutet, dass die Opferrolle nicht von Persönlichkeitsmerkmalen, sondern vom Kontext (z.B. Ausprägung hierarchischer Strukturen) respektive der Schulklasse abhängig ist (Schäfer et al., 2004a). Wenn die Dominanzstrukturen in der weiterführenden Schule hoch sind, dann besteht ein zweifach erhöhtes relatives Risiko, Opfer in der Sekundarstufe wieder sein zu können. Andernfalls besteht dieses relative Risiko nicht. Kurzum: Der Kontext entscheidend, nicht aber Persönlichkeitsfaktoren.

Ähnliches konnte für Täterverhalten untersucht werden. Hierbei zeigte sich eine hohe Stabilität für aggressives Mobbingverhalten. Die Tendenz, andere zu mobben, ist im Wechsel zwischen verschiedenen Kontexten sehr stabil (Hörmann & Schäfer, 2009), was dafürspricht, dass wenn die Reaktion des Umfeldes (Mitschüler, Lehrer, Erzieher und so weiter) günstig ist, aggressives Verhalten der Täter erwartbar wird, weil ihre Erfolgserwartungen in den Interaktionen nicht systematisch enttäuscht werden (Olweus, 1978; Egan et al., 1999).

The long-term risk to remain in the bully role may be due to personality factors. Their shaping in developmental contexts before school entry or outside primary and secondary school context (e.g. family context, Loeber & Hay, 1997) can nurture a stable behavioral tendency to aggress others. Pelligrini and Bartini (2000) argue that this tendency is driven by seeking dominance over others rather than just aggressing others (see also Roland & Isdøe, 2001), a motive that finds a particularly suitable environment in hierarchical social systems. While the early primary school context does not seem to foster the stability of bullying, the secondary school context definitive does.

Das langfristige Risiko, in der Täterrolle zu verharren, kann auf Persönlichkeitsfaktoren zurückzuführt werden. Ihre Prägung in Entwicklungskontexten vor dem Schuleintritt oder außerhalb des Primar- und Sekundarschulkontexts (z. B. familiärer Kontext, Loeber & Hay, 1997) kann eine stabile Verhaltenstendenz zur Aggression gegen andere fördern. Pelligrini und Bartini (2000) argumentieren, dass diese Tendenz durch das Streben nach Dominanz über andere und nicht nur durch Aggression gegen andere angetrieben wird (siehe auch Roland & Isdøe, 2001), ein Motiv, das in hierarchischen sozialen Systemen ein besonders geeignetes Umfeld findet. Während der frühe Grundschulkontext die Stabilität von Mobbing nicht zu fördern scheint, ist dies im Kontext der Sekundarschule definitiv der Fall.

Schäfer et al. (2004a), S.23

Das relative Risiko, bei Schulübertritt von der Grund- in die weiterführende Schule wieder als Täter aufzutreten, ist verdoppelt (Schäfer et al. 2004a). Es unterstreicht das Lernen am Erfolg und die Abhängigkeit vom Kontext, derartig agieren zu können. Gleichsam und im Gegensatz zur Opferrolle ist es für die Täterrolle plausibel davon auszugehen, dass auch Persönlichkeitsfaktoren Prädiktoren sind (Schäfer et al., 2004a).

Die harten Grenzen des Modells

Die Erklärung der Beweggründe, warum jemand mobbt, sind weniger geradlinig nachzuvollziehen. Der Täter-Opfer-Fokus, der teilweise aus einer klinisch-psychologischen Perspektive erwuchs, konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Initiatoren von Mobbing, obwohl das Phänomen als eine Gruppe von Personen (Kindern) beschrieben wurde, die sich über ein und dasselbe Opfer hermachen und es wiederholt schikanieren und quälen (Salmivalli, 2010). Der einbeschriebene Begriff „Mob“ wurde schon früher etwa für unorganisierte, emotionale und asoziale Menschenmengen verwendet (vgl. z.B. Lagerpetz et al., 1982). Noch weiter zurückgreifend mündet man in der Verhaltensbiologie, denn Konrad Lorenz beschrieb bereits 1963 anhand von Verhaltungsbeobachtungen seiner Graugänse eine Form der Gegenwehr, indem sich die Graugänse in einem Gruppenangriff ihrem Fressfeind zur Wehr setzten. Viele Schwächere konnten sich so gegen einen Stärkeren behaupten. Bei Mobbing ist das Kräfteverhältnis hingegen verkehrt.

Obwohl von Anfang an „Gruppe“ mit „Mobbing“ verknüpft war (vgl. z.B. Heinemann, 1972; Olweus, 1978) vertraten Teile der Forschungsgemeinschaft zum Ende des 20. Jahrhunderts im Lichte des Täter-Opfer-Fokus die sogenannte „Defizithypothese“ (Dodge, 1986; Crick & Dodge, 1994; Arsenio & Lemerise, 2001). Mobbingverhalten wurde, wie Aggression im Allgemeinen, als zeitstabil und unabhängig vom sozialen Kontext angesehen (Olweus, 1978). Die zugehörigen Beschreibungen zu denkbaren Ursachen waren noch nicht mit der heute gebräuchlichen Taxonomie, die auf die Funktion des aggressiven Verhaltens abzielen, durchzogen (Dodge, 1991). Erst zum Ende der 1990er Jahre wurde im Zuge eines Paradigmenwechsels mehr und mehr klar, dass Mobbing für gewöhnlich unprovoziert, absichtlich proaktiv, das heißt zielgerichtet und funktional charakterisiert werden muss (Coie et al., 1991). In Kombination mit einem sich immer stärker beweisenden Gruppenfokus (vgl. Salmivalli et al., 1996) resultierte, dass Mobbende entgegen der Defizithypothese nicht sozial ungeschickt oder emotional dysreguliert sind, sondern gegenteilig klug und geschickt agieren, um ihr Ziel eines hohen sozialen Status zu etablieren und manifestieren (Sutton et al., 1999; Sutton, 2003; Pellegrini, 2002; Garandeau & Cillessen, 2006; Salmivalli & Peets, 2008; Hörmann & Schäfer, 2009). Damit wurde aber insgesamt eine harte, abrupte Erklärungsgrenze des Täter-Opfer-Fokus ersichtlich.

Die Bedeutung für Prävention und Intervention No Blame und andere, das Individuum fokussierende Konzepte

Im Hinblick auf die Generierung von geeigneten Maßnahmen eröffnet der Täter-Opfer-Fokus einen Erklärungsraum, um sogenannte „Outcomes“ respektive Symptome zu behandeln. Das Modell eignet sich, um interventiv Geschädigte „aufzufangen“ und liefert darüber hinaus einige Argumente, die die Stabilität und Prävalenz eines Mobbingsystems erklären. Dies als „ausreichend“ zu bezeichnen wäre verwegen, weil es vornehmlich denjenigen Erklärungsraum ausleuchtet, der wesentlich wird, wenn eine Schädigung bereits eingetreten ist. Das bedeutet nicht, dass es sich hierbei um ein unwesentliches Modell handelt. Es bedeutet aber genauso wenig, dass es dasjenige Modell ist, das vielversprechende Erklärungen zur nachhaltigen Abmilderung (Intervention) oder gar Verhinderung (Prävention) von Mobbing liefert.

Ziel Mobbender ist nicht die Schädigung einer anderen Person, sondern die Etablierung und die Manifestierung von sozialer Macht, indem anhand eines sozial schwächeren Gruppenmitglieds demonstriert wird, was man sich alles erlauben kann (Pellegrini, 2002; Schäfer 2003; Salmivalli & Peets, 2008). Wenn demnach nicht Täter und Opfer, sondern die gesamte Klasse im Zentrum präventiver wie interventiver Maßnahmen steht, dann ist es wenig verwunderlich, wenn aufwendige Metaanalysen über die Evaluation von Interventions- und Präventionsprojekten gegen Mobbing zum Schluss kommen, dass die effizienteste Maßnahme gegen Mobbing aus der Klasse selbst erwächst (Polanin et al., 2012; in Erweiterung Ttofi & Farrington, 2011). Weil Dominanz gegeben wird (Hawley, 1999), ist die gesamte Klasse manipuliertes Agens. Sie legt fest, ob und in welchem Ausmaß wem wieviel Macht zugesprochen wird. Es bedeutet, dass entgegen einer Konfliktlogik nicht Täter und Opfer, sondern alle anderen Klassenmitglieder wesentlich sind, wenn es darum geht Mobbing zu stoppen oder zu verhindern.

Es geht um die Readjustierung gruppendynamischer Prozesse, die auf dem Täter-Opfer-Fokus aufsetzende, das heißt das Individuum fokussierende Maßnahmen wie etwa der No Blame Approach nicht zum Ziel haben. Selbst wenn diese Maßnahmen nicht konfrontativ versuchen die am Mobbing beteiligten Schüler als „Helferexperten“ in einen Lösungsprozess einzubeziehen (Maines & Robinson, 1994), kann nicht von einer nachhaltigen Maßnahme zur notwendigen Umstrukturierung der gesamten sozialen Klassenstruktur gesprochen werden.

Die Gründe hierfür sind vielschichtig und empirisch belegt: Breit angelegte Evaluationen wie etwa zum Interventions- und Präventionsprogramm KiVa (Kiusaamista Vastaan), das sowohl konfrontative wie nicht-konfrontative Elemente beinhaltet, kommen zum Schluss, dass vor allem in weiterführenden Schulen, der Hochzeit von Mobbing (vgl. z.B. Olweus, 1993; Pellegrini & Long, 2002; Schäfer & Korn, 2004; Salmivalli & Voeten, 2004; Salmivalli, 2010), konfrontative Ansätze genauso oder effektiver wie nicht-konfrontative sind (Garandeau et al., 2014). Und obwohl die Erfolgsquote bei individuellen Interventionen jeglicher Art bei fast 80% lag, diskutierten Garandeau, Poskiparta und Salmivalli (2014) diese außerordentlich kritisch, denn …

  • … konfrontative oder nicht-konfrontative, individuumszentrierte Ansätze waren stets nur eines von vielen Elementen im schulumfassenden KiVa-Programm.
  • … über die Größe der Effekte und Nachhaltigkeit sind keinerlei Rückschlüsse möglich.
  • … die Dokumentation der Opfer-Informationen durch Anwendende oder Beteiligte (Lehrer) wird als klare Schwäche2 Die gilt beispielsweise auch für Evaluationen des „No Blame Approach“ (vgl. Maines & Robinson, 1994; Mangold et al., 2008) benannt. Inwiefern etwa soziale Erwünschtheit zu der hohen Erfolgsrate beitragen, ist ebenso schwer einsehbar wie der Anteil am Gesamteffekt.
  • … 44% aller Projektschulen gaben keine Rückmeldung zum Erfolg. Denkbar ist, dass hier der Erfolg eher negativ ausfiel und auch deshalb die hohe Erfolgsrate individuumszentrierter Maßnahmen eine deutliche Überschätzung darstellt.
  • … sowohl konfrontative wie nicht-konfrontative Ansätze hatten auf individueller Ebene keinen Einfluss auf das Maß an sozialer Ausgrenzung. Es erweist sich als deutlich einfacher, intervenierend einzugreifen, wenn es darum geht, ein bestimmtes Verhalten zu unterbinden oder zu unterlassen. Deutlich herausfordernder gestaltet sich demgegenüber der Versuch, erwünschtes Verhalten zu fördern oder Beziehungen zu rekonstruieren, deren Destruktion zur Degradierung eines Schülers eine soziale Funktion innerhalb der gesamten Gruppe erfüllt.

Unterstrichen wurde dies jüngst nochmals von Christina Salmivalli in ihrem Vortrag vom 26.10.2023 auf dem World Anti-Bullying Forum in Raleigh, North Carolina. Zum einen erweist sich mehrfach, dass die Abmilderung von Mobbing durch interventive Maßnahmen öfters scheitern als nicht. Zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass durch bestehende (das Individuum fokussierende) Maßnahmen nur mehr 20% aller Mobbingfälle gelöst werden (Salmivalli, 2023). Im Weiteren wird von ihr selbstkritisch angefügt, dass Wissenschaftler oder Vertreter verschiedener Präventions- wie Interventionsprogramme dazu tendieren, positive Ergebnisse zu präsentieren, um etwa nachgeschaltet Lehr- und Fachkräfte zu stärken respektive zu ermutigen, weiterhin am Ball zu bleiben.

And to be honest: We often develop programs that we are evaluating, we really want those programs to work. That’s why we often report what works on average. But I think that investigating the average effects of prevention and intervention programs no more brings the field forward. It’s time to go a little bit deeper.

Und um ehrlich zu sein: Wir entwickeln oft Programme, die wir evaluieren, weil wir wirklich wollen, dass diese Programme funktionieren. Deshalb berichten wir oft darüber, was im Durchschnitt funktioniert. Aber ich denke, dass die Untersuchung der durchschnittlichen Auswirkungen von Präventions- und Interventionsprogrammen das Feld nicht mehr weiterbringt. Es ist an der Zeit, ein wenig tiefer zu gehen.

Christina Salmivalli, World Anti-Bullying Forum 2023

Kurzum, wenn möglichst umfänglich Prävention oder Intervention gelingen soll, dann sind schablonenhafte, Komplexität reduzierende Maßnahmen eher kontraproduktiv, auch wenn sie womöglich für 20 bis 30 Prozent aller Fälle eine Verbesserung versprechen (Salmivalli, 2023). Denn es muss zusätzlich eingepreist werden, dass Ausführende zumeist nur circa 24% aller Mobbingfälle in ihrer eigenen Schule erkennen (Haataja et al., 2016). Hinzu kommt das sogenannte „Healthy Context“ Paradoxon:

Abbildung 1: Das Problem des sogenannten „Healthy Context Paradoxon“ nach Laninga-Wijnen, Garandeau, Malamut & Salmivalli (2023)

Selbst wenn das Level an Viktimisierung durch Manual orientierte, das heißt Komplexität reduzierende Maßnahmen verringert wird, ist es wahrscheinlich, dass die verbleibenden Opfer nochmals schlechter dran sind als zuvor (Salmivalli, 2018; Garandeau & Salmivalli, 2019; Huisting et al., 2019, Pan et al., 2021).

I was really advocating defending. And I still am. We have to empower peers to defend those who are victimized. […] We looked at a context where defending of peers who are victimized is common. So, the defending descriptive norms are high. […] The first finding: On average, in classrooms where defending victimized peers is common, students overall are better off. They are less depressed. They are more happy. Their well-being is higher. […] The difference for non-victimized children is that they are much happier in classrooms where there is a lot of defending. But as a function of increasing victimization this benefit is washed off.

Ich habe mich für das Verteidigen des Opfers eingesetzt. Und das tue ich immer noch. Wir müssen Gleichaltrige befähigen, diejenigen zu verteidigen, die viktimisiert werden. [...] Wir haben uns einen Kontext angesehen, in dem die Verteidigung von Gleichaltrigen, die viktimisiert werden, üblich ist. Die beschreibenden Normen für Verteidigerverhalten sind also hoch. [...] Das erste Ergebnis: In Klassen, in denen es geläufig ist, viktimisierte Klassenmitglieder zu verteidigen, geht es den Schülern im Durchschnitt besser. Sie sind weniger deprimiert. Sie sind glücklicher. Ihr Wohlbefinden ist höher. [...] Der Unterschied für nicht viktimisierte Kinder ist, dass sie in Klassen, in denen viel verteidigt wird, viel glücklicher sind. Mit zunehmender Viktimisierung wird dieser Vorteil jedoch wieder zunichte gemacht.

Christina Salmivalli, World Anti-Bullying Forum 2023

Oder mit anderen Worten: Einerseits ist das Einschreiten für das Opfer durch Peers (Klassenmitglieder) immer noch am vielversprechendsten (vgl. Polanin et al., 2012). Andererseits bedeutet dies aber auch, dass es kein standardisiertes, das Individuum fokussierendes Rezept gegen das Gruppenphänomen Mobbing geben kann, weil das soziale Gefüge „Gruppe“ sich stetig wandelt und daher ein ständiges, evidenzbasiertes (vgl. z.B. Rapport, 2000; Hanewinkel, 2004; Olweus & Limber, 2010) Adaptieren respektive Adjustieren auf Gruppenebene in Intervention wie Prävention angezeigt ist (vgl. Johander et al., 2020; Laninga-Wijnen et al., 2024). Übersetzt bedeutet dies, dass Ausführende eines Programmes vornehmlich darin befähigt werden müssen, in eigenen, passgenauen Aktionen gestalterisch-moderierend agieren zu können, anstatt präzise ein Maßnahmenpaket nach Anleitung durchzuführen (vgl. Salmivalli, 2023).

Das Umgehen von Komplexität im Themenfeld „Mobbing“, indem etwa der Täter-Opfer-Fokus als Richtschnur für präventive oder interventive Maßnahmen gesetzt wird, führen dazu, dass Symptome gelindert werden können (situative Verbesserung). Und dies für nicht mehr als 20% aller existierender Mobbingfälle (Olweus & Limber, 2010; Haataja et al., 2016; Salmivalli, 2023). Eine nachhaltige, sozial-systemische Verbesserung, das heißt auf die Ursachen zielende Maßnahmen bleiben dabei aber aus. Die Ergebnisse von Hanewinkel (2004) unterstreichen die Notwendigkeit einer evidenzbasierenden, umfänglichen, Komplexität adressierenden Präventions- wie Interventionsidee sogar im erweiternden Sinne:

The programme has been adapted by single schools that decided to deal with bullying problems, however from our experience the feeling of not receiving help from politicians is frustrating and demotivating for schools and leaves them with the feeling of being a ‘lonely fighter’. The consequence is that schools try out various single measures that have not been evaluated and which they get offered from institutions, such as at in-service courses given by institutes for teachers. What they need is a programme which is based on theory and evaluated, as well as explicit support from policy-makers, in order to convince parents and colleagues at school to co-operate and so as to integrate useful and effective prevention measures in their own school systems.

Das Programm wurde von einzelnen Schulen adaptiert, die beschlossen, sich mit Mobbingproblemen zu befassen. Unserer Erfahrung nach ist das Gefühl, von der Politik keine Hilfe zu erhalten, für Schulen frustrierend, demotivierend und hinterlässt bei ihnen das Gefühl, ein „einsamer Kämpfer“ zu sein. Die Folge ist, dass Schulen verschiedene Einzelmaßnahmen ausprobieren, die nicht evaluiert sind und die sie von Institutionen angeboten bekommen, z.B. bei Fortbildungen von Lehrerinstituten. Was sie brauchen, ist ein theoretisch fundiertes und evaluiertes Programm sowie die ausdrückliche Unterstützung durch die Politik, um Eltern und Kollegen in der Schule zur Mitarbeit zu bewegen und sinnvolle und wirksame Präventionsmaßnahmen in ihr eigenes Schulsystem zu integrieren.

Hanewinkel, 2004, S.97

Literaturverzeichnis

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